Gedanken für den Tag

von Ulla Konrad, Klinische Psychologin, Heilpädagogin und Mitglied des Vorstandes von CONCORDIA. "Vertrauen und Zuwendung". Gestaltung: Alexandra Mantler

Der Graben

Ich fahre mit einer Concordia-Kollegin mit dem Auto von Bukarest 160 Kilometer Richtung Republik Moldau, in die ärmste Region von Rumänien. Wir treffen dort die Sozialarbeiterin Angelica, die uns kontaktiert hat, weil sie ein Beratungszentrum aufbauen möchte für kinderreiche Familien gemeinsam mit Concordia.

Der Bürgermeister engagiert sich auch und zeigt uns sein Dorf. Es ist geteilt. Ein tiefer Graben trennt die Armen und die ganz Armen. Im kleinen Cafe am Platz sitzen Männer bei ihrem Bier, ein paar Stände sind hübsch aufgebaut und Leute verkaufen dort Dinge des täglichen Bedarfs. Dann kommt der Graben. Mit dem alten Geländewagen des Bürgermeisters schaukeln wir durch eine Art ausgetrocknetes Bachbett. Wenn es regnet oder schneit, kommt man nicht mehr durch. "Dann können die Kinder nicht in die Schule", berichtet die Sozialarbeiterin Angelica. Und die Erwachsenen müssen einen Riesenumweg machen. Die Barriere ist ein Symbol für die Menschen da drüben, denke ich mir.

Angelica ist eine aparte und resolute Frau Mitte Vierzig, sie strahlt Entschlossenheit, aber auch Ruhe aus und erzählt mit freundlicher Stimme über ihre unglaublich schwierige Arbeit. Sie führt uns zu einer Roma-Familie. Die Eltern arbeiten, wenn sie etwas finden, die Großmutter betreut fünf Kinder von eineinhalb bis fünfzehn Jahre. Die Kinder sind scheu, das Haus ist eher eine Hütte mit türkis gestrichenen Wänden und einem großen Heiligenbild, das wir kitschig nennen würden. Alles ist blitzsauber.

Ich erlebe erstaunlich oft, wie Menschen trotz existenzieller Armut auf Ordnung Wert legen. Wir fragen, wie es ist, von der Hand in den Mund zu leben und wie sie mit dem Graben im Ort zurechtkommen. Bei jeder ersten Begegnung ist es entscheidend, vorurteilsfrei auf die Menschen zuzugehen, Interesse zu zeigen, Vertrauen zu signalisieren, Empathie. Ob wir den Kindern und der Familie helfen können, wissen wir noch nicht, aber der erste Schritt ist getan. Sozialarbeit ist Beziehungsarbeit, sie braucht Zeit und gute Wahrnehmung, dann gibt es die Chance auf Unterstützung, die ankommt. Wir müssen die Gräben unseres Lebens beachten, dann können wir Wege und Brücken bauen.

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Titel: GFT 160906 Gedanken für den Tag / Ulla Konrad
Länge: 03:49 min

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