Gedanken für den Tag

23. Dezember 2016, 06:56

Es war noch gar nicht richtig hell, als meine Schwester anrief. "Wenn du unsere Mutter noch lebend antreffen willst, dann komm. Ich weiß nicht, ob sie den heutigen Tag überlebt." Es war Heiligabend. Und eigentlich war mein Tag eng getaktet: das Haus voll Besuch, die Christvespern, die wir zu halten hatten, das Weihnachtsessen, das vorzubereiten war und sonst noch einiges. Eigentlich war keine halbe Stunde frei. Aber nach einer kurzen Besprechung mit meinem Mann war ich auf dem 400 Kilometer langen Weg zu meiner Mutter.

Schon einmal, 14 Jahre vorher hatte der Tod am Heiligabend Einkehr in unserer Familie gehalten, als meine Schwiegermutter gestorben war, eine zutiefst gütige Frau, die wir alle sehr geliebt haben. Ich habe dieses Weihnachten trotz aller Traurigkeit und Tränen als wohltuend in Erinnerung, einmalig, allerdings ganz anders als alle Feste vorher und nachher.

Und jetzt? Als ich das Krankenzimmer meiner Mutter betrat, war sie bei Bewusstsein, aber müde und schmerzgeplagt. Meine Schwester ließ uns alleine, und in den nächsten Stunden hatte ich nichts anderes zu tun, als ab und zu ihre Hand zu streicheln, zu hören, was sie mir noch zu sagen hatte, ihr wenige Bitten zu erfüllen, das Weihnachtsevangelium zu lesen. Es war eine unwahrscheinliche Ruhe im Raum. Später, als es schon dunkel war, kam meine Schwester zurück.

So ganz anders war dieser Heiligabend: kein Christbaum, keine Musik, keine Kirche, kein Festessen, keine Geschenke zum Auspacken. Nur wir drei, allein auf einer Insel in einem großen Krankenhaus. Lediglich die Engel waren zu spüren und verkündeten auch angesichts des Todes ihre Botschaft: Fürchtet euch nicht, denn euch ist heute der Heiland geboren.

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler