Gedanken für den Tag

von Peter Zeillinger, katholischer Theologe und Philosoph. "Die Zukunft beginnt jetzt". Gestaltung: Alexandra Mantler

Die Gerechtigkeit und das "Vielleicht" (Jacques Derrida)

Manchmal - nein: fast immer - kommt es auf die kleinen Dinge, die Feinheiten an. So ist dies auch mit dem kleinen Wörtchen "vielleicht", das im Werk des französischen Philosophen Jacques Derrida (1930 - 2004) eine zentrale Rolle spielt. Wer von Gerechtigkeit sprechen will, der muss dabei stets auf den Gestus des "Vielleicht" achten, hat er 1989 in einem berühmt gewordenen Vortrag vor Juristen in New York formuliert.

Was hat es mit diesem "Vielleicht" auf sich - denn es ist gerade das deutsche Wort, auf das sich Derrida immer wieder bezieht. Das Grimm'sche Wörterbuch hebt hervor, dass das deutsche Vielleicht ursprünglich keine Unsicherheit bezeichnet. Im Gegenteil. Es hat seine Wurzel im mittelhochdeutschen "vîl lihte" ("sehr leicht") - im Sinn von "es kann sehr leicht sein, dass .". Und das Wörterbuch betont, dass das Vielleicht demnach nicht das Ungewisse, sondern die "angenommene Möglichkeit" vermittelt.

Wer also einen Satz mit einem "Vielleicht" formuliert, der macht nicht bloß eine allgemeine Aussage oder verkündet ein objektives Urteil, sondern benennt das, von dem er annimmt, dass es die Wahrheit ist. Das heißt, in einem solchen Satz bindet sich der Sprecher oder die Sprecherin an die Aussage und übernimmt damit die Verantwortung, dass es sich so verhält.

Dort, wo es um die Gerechtigkeit, insbesondere um ein gerechtes Urteil geht, wird dieses Vielleicht schließlich zum Zünglein an der Waage: Von keinen meiner Entscheidungen und Urteile kann ich behaupten, dass sie unumstößlich sind und alle Eventualitäten bereits berücksichtigt haben. Ich muss damit rechnen, dass die Zukunft einen neuen Blickwinkel einbringen kann. Ich muss also schon jetzt die Möglichkeit der Berufung durch den anderen und die andere zulassen. Im Gestus des Vielleicht wird für Derrida diese Bereitschaft zum Ausdruck gebracht.

Es ist nicht nötig, jedem Satz das Wort "vielleicht" hinzuzufügen. Aber es wird - im Namen der Gerechtigkeit - vielleicht nötig gewesen sein, schon jetzt die Möglichkeit einer Berufung gegen mein Urteil anzuerkennen.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Titel: GFT 170105 Gedanken für den Tag / Peter Zeillinger
Länge: 03:49 min

Komponist/Komponistin: George Gershwin/1898 - 1937
Bearbeiter/Bearbeiterin: Stanley Silverman/geb.1938
Album: RENDEZVOUS MIT TASHI
Titel: Promenade (Walking the dog) / aus dem Film "Shall we dance"/ Bearbeitung für Klarinette und Streichquartett
Ausführende: Tashi
Ausführender/Ausführende: Richard Stoltzman /Klarinette
Ausführender/Ausführende: Ida Kavafian /Violine
Ausführender/Ausführende: Theorore Arm /Violine
Ausführender/Ausführende: Steven Tenenbom /Viola
Ausführender/Ausführende: Fred Sherry /Violoncello
Länge: 02:00 min
Label: RCA RD 87901

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