Zwischenruf

Ulrich H. J. Körtner über Politik und Religion

Wie politisch darf/muss die Kirche sein? Ulrich H. J. Körtner, Ordinarius für Systemische Theologie und Institutsvorstand an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, über Politik im Evangelium und den Öffentlichkeitsauftrag von evangelischen Christen heute. - Gestaltung: Martin Gross

Politik machen - Politik möglich machen

Wie politisch darf die Kirche sein? Wie politisch muss sie sein? Im Wahlkampf wird diese Frage wieder aufkommen, sobald sich die Kirchen öffentlich zu Wort melden, beispielsweise zur Sozialpolitik oder zur Asylpolitik. Von dem evangelischen Christen und ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker stammt der Satz: Die Kirche will nicht Politik machen, sondern Politik möglich machen. So verstehen die evangelischen Kirchen heute ihren Öffentlichkeitsauftrag, der aus dem biblischen Evangelium folgt. Heinrich Bedford-Strohm, lutherischer Bischof von Bayern und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, pflegt zu sagen, wer fromm sei, müsse auch politisch sein. Und er beruft sich dabei gern auf den Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, der 1945 hingerichtet wurde. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, ebenfalls evangelischer Christ, hält freilich dagegen: Um politisch zu sein, müsse Religion erst einmal Religion sein.

Politische und theologische Vernunft

Ich halte diese Feststellung für zutreffend. Das Evangelium hat eine politische Dimension, aber zu ihr gehört auch die Unterscheidung zwischen der Sphäre des Politischen und dem Reich Gottes. Es gibt eine Auffassung von politischer Theologie, die durch Moralisierung des Evangeliums das eigene Recht des Politischen in Frage stellt und zur Abdankung der politischen Vernunft führt. Zwischen dem moralisch Gebotenen und dem politisch Richtigen ist auch aus Glaubensgründen zu unterscheiden. Aus dem Gebot der Nächstenliebe lassen sich zum Beispiel keine erschöpfenden Handlungsanweisungen für eine langfristige Migrationspolitik ableiten. Überhaupt ist die Annahme, moralische Gebote würden alle politischen Gründe übertrumpfen, nicht nur ethisch, sondern auch theologisch fragwürdig. Politik hat nicht nur die kurzfristigen, sondern auch die längerfristigen Folgen politischen Handelns zu verantworten.

Wie es die Aufgabe der Ethik ist, vor zu viel Moral und ihren Ambivalenzen zu warnen, so ist es die Aufgabe der Theologie, die Unterscheidung zwischen Religion und Moral in Gesellschaft, Politik und Kirche bewusst zu machen. In der Sprache der reformatorischen Tradition: die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. Sie ist das Herzstück theologischer Vernunft und fördert die politische Vernunft, das heißt, den Vernunftgebrauch im Bereich des Politischen. Ohne theologische und politische Vernunft ineinander fallen zu lassen, sind doch beide in ein konstruktives Verhältnis zu setzen, um der Tyrannei des moralischen Imperativs in Politik und Kirche Einhalt zu gebieten.

Die Kirchen sind keine Moralagentur

Wenn die Formel, die Kirche wolle nicht Politik machen, sondern möglich machen, besagen soll, dass die Kirchen sich vom Evangelium her beauftragt sehen, sich an der politischen Meinungsbildung zu beteiligen, geht der Satz theologisch in Ordnung. Aber der kirchliche Anspruch, Politik allererst möglich zu machen, geht doch über das Bekenntnis zur politischen Dimension des Evangeliums hinaus. Die Behauptung, ohne die Kirchen sei kein Staat zu machen, kann der Klerikalisierung von Politik Vorschub leisten, bei welcher nicht etwa der Staat, sondern die Kirchen ihre vom Evangelium her gebotene Selbstbegrenzung aufgeben.

Die Kirchen werden weithin nur noch als Moralagentur wahrgenommen. Dabei soll es in ihnen doch um die Gottesbeziehung des Menschen gehen, der nach dem Sinn seines Lebens und der Welt im Ganzen fragt, nach dem Woher, dem Warum und dem Wohin seiner Existenz.

Das heißt freilich keineswegs, das Evangelium von Jesus Christus sei unpolitisch. Die Forderung zu hören, die Kirche solle sich aus der Tagespolitik heraushalten, ist zumeist gar nicht religiös, sondern rein politisch begründet. Die Entpolitisierung des christlichen Glaubens ist jedoch genauso kritikwürdig wie Tendenzen zur Re-Theologisierung der Politik.

Service

Buch, Ulrich H. J. Körtner, "Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche", Evangelische Verlagsanstalt

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