Zwischenruf

Susanne Heine über "Das tägliche letzte Gericht"

Univ. Prof. Dr. Susanne Heine (Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie, Evangelisch-Theologische Fakultät, Universität Wien) über eine Gesellschaft der Ankläger, Richter und Angeklagten ohne Verteidiger und Gerichtsverfahren. - Gestaltung: Martin Gross

Es ist lange her, dass die Menschen Gott angeklagt haben. Wo bleibt seine Güte, wo seine gute Schöpfung? Lüge und Trug, Mord und Totschlag am laufenden Band - wie kann Gott, angeblich allmächtig, das alles einfach so durchgehen lassen? Da Gott keine Antwort darauf gegeben hat, wurde er kurzerhand abgesetzt. Seitdem haben die Menschen Gottes Geschäft übernommen und fallen als selbsternannte Richter übereinander her. Das tägliche letzte Gericht.

Bereits in den 1980er Jahren hat der vor zwei Jahren verstorbene Philosoph Odo Marquart die Diagnose gestellt: Die Gesellschaft ist zu einem Tribunal geworden. Es gibt nur mehr Ankläger, Angeklagte und Richter, die ihre Rollen wechseln - ohne Verteidiger und ordentliches Gerichtsverfahren, versteht sich. Heute wird viel davon geredet, dass unsere Gesellschaft gespalten ist. Aber die Spaltung beruht nicht auf unterschiedlichen Ansichten, über die sich reden ließe, sondern auf einem Kampf besonderer Art: Wer sich nicht beschuldigen lassen will, alles, was schief läuft, verursacht zu haben, muss die anderen beschuldigen. Sonst landet er selbst auf der Anklagebank. Das tägliche letzte Gericht.

Die Gesellschaft ist zu einem gnadenlosen Tribunal geworden, wo Menschen einander verdächtigen, anklagen und dazu zwingen, sich zu rechtfertigen, letztlich sogar dafür, dass sie überhaupt existieren; jedenfalls dafür, dass sie sind, wer und wie sie sind. Der Philosoph Odo Marquart wendet diese totale Beweislast für das "eigene Seindürfen und Soseindürfen" auf sich selbst an: "Mit welchem Recht sind Sie Marquard und nicht vielmehr ein anderer, und mit welchem Recht sind Sie überhaupt und nicht vielmehr nicht?" Das scheint übertrieben, deckt sich für mich aber mit der Erfahrung.

Denn vor diese Frage sehen sich viele gestellt: Mit welchem Recht sind sie Flüchtlinge, Muslime oder Juden? Mit welchem Recht sind sie Politiker, Banker oder Wissenschaftler? Mit welchem Recht stehen sie politisch rechts oder links, sind sie kirchlich engagiert oder atheistisch gesonnen? Frauen immer inbegriffen. Hauptsache, die anderen sind schuld. Um selbst kein schlechtes Gewissen haben zu müssen, erhebt man sich zur Gewissensinstanz für die anderen: "Man erspart sich das Tribunal, indem man es wird", so Odo Marquard.

Dem zu entkommen, ist nicht leicht, und am besten eignet sich dazu die Opferrolle. Wenn es den Beschuldigten gelingt, sich in der Öffentlichkeit als Opfer darzustellen, können sie mit moralischer Anerkennung rechnen und dem täglichen Gericht entgehen. Nicht weil Menschen verschieden sind, haben wir eine Spaltung in unserer Gesellschaft, sondern weil sie zwischen den Rollen Ankläger oder Märtyrer dauernd herumspringen, ohne daraus einen Ausweg zu finden.

Der Philosoph Odo Marquard war kein Theologe, aber er vermisst, was, religiös gesprochen, Gnade und Barmherzigkeit heißt - für Menschen, die nur eine kurze Zeit leben und alles andere als vollkommen sind. Wenn es stimmt, dass alle Menschen vor Gott gleich sind, dann muss daraus folgen, dass sie untereinander ohne Angst verschieden sein dürfen. Eine vereinheitlichte Welt haben zu wollen und diese von einer jeweils nächsten Regierung zu erwarten, übersieht, was gut läuft und Anlass gibt, zufrieden zu sein. Und die Dauerrede von der totalen Krise dient nur der Rechtfertigung, sich um das, was ganz konkret im Argen liegt, nicht zu kümmern.

Vergangenen Sonntag hat Papst Franziskus beim Mittagsgebet gesagt: "Die Grenze zwischen Gut und Böse geht durch das Herz jedes Menschen." Selbsterkenntnis ist gefragt statt Selbstrechtfertigung und Opferrhetorik. So heißt es im Evangelium des Matthäus: Gott lässt "seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte." Damit ist nicht egal, was Menschen tun, daher braucht es in klaren Fällen Gerichte mit einem transparenten Verfahren. Für den gesellschaftlichen Umgang aber wäre trotz allem, was schief läuft, angesagt, das Tribunal abzuschaffen und das letzte Gericht Gott zu überlassen. Dann würde wohl manches besser laufen.

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