Das Ö1 Konzert

Sibelius und Schostakowitsch bei den BBC Proms

BBC National Orchestra of Wales, Dirigent: Thomas Söndergard.
Jean Sibelius: Symphonie Nr. 7 C-Dur op. 105 * Dmitrij Schostakowitsch: Symphonie Nr. 10 e-Moll op. 93 (aufgenommen am 17. Juli in der Royal Albert Hall, London im Rahmen der "Proms 2017"). Präsentation: Peter Kislinger

Ein Sieg nicht nur über Stalin

Keine zwei Wochen nach Josef Stalins Tod - am 5. März 1953 starb auch der Komponist Serge Prokofjew - wurde es offizielle Politik der UdSSR: keine Verehrung eines lebenden Sowjetführers mehr, kein, wie es nun hieß, Personenkult. Schostakowitsch hatte seine letzte, recht knappe, Symphonie 1945 vorgelegt. Die Musikwelt fragte sich, ob nach der von Stalin initiierten "Formalismus"-Attacke auf Schostakowitsch (und Prokofjew) der Symphoniker nun völlig verstummt sei. Die Angriffe hatten 1948 u. a. zur Folge, dass Schostakowitsch seiner Stellung am Konservatorium Moskau enthoben worden war.
Die 10. Symphonie wurde im Dezember 1953 in Leningrad (heute St. Petersburg) von der Leningrader Philharmonie unter der Leitung von Jewgeni Mrawinski uraufgeführt. Dem überwältigenden Publikumserfolg hielten linientreue Kritiker entgegen, es seien nur Freunde des Komponisten im Saal gewesen.

Ein Stalin-Porträt?

Der Komponist Tichon Chrennikow, der mächtige, despotische Vorsitzende des Sowjetischen Komponistenverbandes, hatte seine eigene Deutung: Der Held dieser Symphonie sei ein "verängstigter Vertreter der Intelligenzija", der den Ansprüchen des Lebens und der neuen (Sowjet-)Zeit, nicht gewachsen sei, ein von Alpträumen und "neuro-pathologischen Krämpfen" Geplagter schreie und brülle da, wisse keinen Ausweg. Die helleren Passagen bezeichnete er als "infantil". Es waren Chrennikow und seine Genossen, die von den "Formalismus"-Vorwürfen Stalins profitieren - auch nach dem Tode Stalins blieb die Lage für Schostakowitsch prekär.

Der extrem lange 1. Satz ist mit seinen sehr einfachen, kontrapunktisch verarbeiteten Ideen sehr intim und erinnert an die in den Jahren zuvor entstandenen Präludien und Fugen für Klavier.
Der umstrittene Schostakowitsch-Biograph Solomon Wolkow behauptete, der Komponist habe ihm gestanden, das kurze, als brutal und destruktiv empfundene Scherzo, der 2. Satz, sei ein Stalinporträt. Die Fachliteratur zweifelt an der Authentizität dieser Zuschreibung.

Annäherungen aus der Distanz

Der 3. Satz verwendet zum ersten Mal die, im 1. Violinkonzert bloß angedeutete, Tonchiffre D-Es (S)-C-H (Dmitri Schostakowitsch). Heute wird sie in jedem Programmheft erwähnt, damals war sie nur wenigen Freunden bekannt.
Der 3., traumartige, Satz führt eine zweite Chiffre ein. Zwölf Mal spielt der Hornruf mit den Initialen einer Musikstudentin aus Aserbaidschan: Elmira Nazirowa (E-La-MI-Re-A; eine Kombination aus deutschen und italienischen Notennamen). Zwölf Mal versucht D-Es-C-H, dem Elmira-Motiv näher zu kommen. Während der Arbeit an der Symphonie hatte ihr Schostakowitsch 20 Briefe geschrieben. Zudem erinnert das Elmira-Motiv, eine Art idée fixe, an den ersten Hornruf aus Mahlers "Das Lied von der Erde". Schostakowitsch hatte 1953 in Wien eine Aufführung gehört. Annäherungsversuche an zwei Verehrte - Distanz und Geheimnis werden sowohl bewahrt als auch offen gelegt.

Ein Schostakowitsch-Porträt

Das Werk kulminiert im triumphalen D-(E)S-C-H, nicht mehr in c-Moll wie im 3. Satz, sondern im lebensbejahenden A-Dur auf der Pauke: ICH ICH ICH! Das Werk, eine Reflexion auf sein Leben im totalitären Regime der Sowjetunion, endet mit seinem Sieg über seine Widersacher, nicht nur Stalin.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Jean Sibelius/1865 - 1957
Titel: Symphonie Nr.7 in C-Dur op.105
* Adagio
* Un pochettino meno adagio - Vivacissimo - Adagio
* Allegro molto moderato
* Vivace - Presto - Adagio
Orchester: BBC National Orchestra of Wales
Leitung: Thomas Söndergard
Länge: 20:20 min
Label: EBU

Komponist/Komponistin: Peter Iljitsch Tschaikowsky/1840 - 1893
* 4. Nocturne in cis-moll: Andante sentimentale - Nr.4
Titel: Sechs Stücke für Klavier op.19
Solist/Solistin: Behzod Abduraimov / Klavier
Länge: 03:45 min

Komponist/Komponistin: Dimitri Schostakowitsch/1906 - 1975
Titel: Symphonie Nr.10 in e-moll op.93
* Moderato - 1.Satz
* Allegro - 2.Satz
* Allegretto - 3.Satz
* Andante, Allegro - 4.Satz
Orchester: BBC National Orchestra of Wales
Leitung: Thomas Söndergard
Länge: 52:45 min
Label: EBU

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