ORF/URSULA HUMMEL-BERGER
Radiokolleg - Die Grenzen der Empathie
Wenn das Mitfühlen zu viel oder zu wenig wird (3). Gestaltung: Hans Groiß
18. Oktober 2017, 09:05
In dem Buch "Durch Mauern gehen"(Luchterhand) beschreibt Marina Abramovi? die Erfahrungen während ihrer Langzeitperformance "The Artist is Present" im New Yorker MoMA, bei der sie in 721 Stunden rund 1.500 Menschen gegenüber saß:
"Sehr schnell spürte ich, dass die Leute, sobald sie mir gegenüber Platz genommen hatten, unglaublich bewegt waren. Einigen kamen die Tränen - und mir ebenfalls. War ich ein Spiegel? .. Ich konnte den Schmerz der Menschen sehen und spüren".
In der Kunst ist es relevant sich sowohl als Betrachter, als auch als Schöpfer in andere und anderes hineinversetzen zu können. Empathie ist auch für Cana Bilir-Meier wichtig: Sie machte eine künstlerische Arbeit über ihre Tante, die politische Aktivistin Semra Ertan, die sich 1982 als Zeichen gegen herrschende Ausländerfeindlichkeit in Hamburg verbrannte. Die Künstlerin kannte ihre Tante nicht persönlich.
Empathie könnte als ein gesellschaftlicher Imperativ zum guten Handeln bezeichnet werden und hat scheinbar keine Grenzen: Wir kennen das vom Gähnen, beim Musikhören oder vom Beine übereinander schlagen - sobald jemand mit einer Handlung oder Geste beginnt, können wir leicht "mitschwingen" und lassen uns anstecken.
In der medizinischen Forschung wird davon ausgegangen, dass die Empathie das Immunsystem stärkt. Aber was heißt Empathie eigentlich genau und ist immer tatsächlich der Begriff Empathie gemeint oder geht es um Wohlwollen, Gedankenlesen oder Obsorge?
Empathie boomt als Sehnsuchtsort und als Begriff in der Kunst, der Psychologie und der Kognitionswissenschaft. Entweder mangelt es daran, oder es gibt zu viel. Gibt es aber eine neue gesellschaftliche Empfindsamkeit oder hallt nur die Forderung nach mehr Rücksicht nach? Der kleine Prinz sieht nur "mit dem Herzen gut" - aber geht das überhaupt? Ist Empathie erlern- und auch verlernbar? In den Sprachwissenschaften ist immer öfter von den "dunklen Seiten der Empathie" zu hören, wie sie etwa Autokraten und Populisten benutzen. Hans Groiss versucht eine Begriffsdefinition und analysiert die Balance zwischen Mangel und Überfluss an Mitgefühl.
Service
Empathy - donaufestival 2017
Fritz Breithaupt: Kulturen der Empathie. Suhrkamp 2009
Fritz Breithaupt: Die dunklen Seiten der Empathie. Suhrkamp 2017
Werner Bartens: Empathie - Die Macht des Mitgefühls. Knaur 2017
Dalai Lama: Empathie - Es fängt bei Dir an und kann die Welt verändern. Herder 2017
Jeremy Rifkin: Die empathische Zivilisation. Fischer 2012
Monika Mokre: Solidarität als Übersetzung. transversal Texts, 2015
Marina Abramovic: Durch Mauern gehen. Luchterhand 2016