Bewaffnete Truppen werden in Linz bejubelt

AP

Radiokolleg Spezial - "Anschluss" 1938

Stationen einer Machtübernahme. Mit Beiträgen von Günter Kaindlstorfer, Tanja Malle, Marlene Nowotny, Uli Jürgens und Wolfgang Ritschl

Station 3: Die Opferumkehr. Über selektives Erinnern und das Eingestehen von Verantwortung.

Die Vereinigung des nationalsozialistischen Deutschen Reiches und Österreichs, sowie die Machtübernahme der Nationalsozialisten besiegelten das Ende der Ersten Republik und damit des eigenständigen Staates. Der Einmarsch der Wehrmacht wurde von jubelnden Menschenmassen begrüßt und doch berief sich Österreich bereits sehr früh darauf, das erste Opfer Nazi-Deutschlands gewesen zu sein. Oliver Rathkolb, stellvertretender Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, spricht mit Wolfgang Ritschl über das jahrelang geltende Selbstbild Österreichs als das erste Opfer der Nazis.

Ein Grundlagendokument für diese Sichtweise bildete auch die Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943. Die drei führenden alliierten Mächte, die USA, Großbritannien und die Sowjetunion einigten sich damals darauf, dass sie aus geostrategischen Gründen die Wiedererrichtung eines unabhängigen Österreichs befürworten. Österreich wird darin als erstes Land bezeichnet, "das der Hitlerschen Aggression zum Opfer gefallen ist" und gleichzeitig dazu aufgefordert, einen Beitrag zu seiner eigenen Befreiung zu leisten. Diese gab es partiell, etwa im Süden von Kärnten durch bewaffnete Kärntner Slowenische Partisaneneinheiten, aber auch in Tirol. Dort kommt es 1945 zu einer in Österreich wenig bekannten transnationalen Befreiungs- und Widerstandsaktion, geleitet vom US-amerikanischen Kriegsgeheimdienst OSS, berichtet Tanja Malle.

Der österreichische Opfermythos prägte die Zweite Republik bis in die späten 1980er Jahre. Erst damals begann eine intensive öffentliche Debatte über die Beteiligung von Österreichern an den Verbrechen des Nationalsozialismus und am Holocaust. Beispielhaft dafür steht das Burgendland, Marlene Nowotny hält in ihrem Beitrag fest, dass es bereits am Abend des 11. März 1938 zu ersten schweren Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung kam. Noch bevor Hitlers Truppen die Grenze zu Österreich überschritten hatten, waren dort bereits jüdische Geschäfte demoliert und Gebäude mit antisemitischen Flüchen beschmiert worden. Kurz darauf kam es zu den ersten Verhaftungen. Das Burgenland galt als "Mustergau", in keiner anderen Region des Deutschen Reiches wurden die Juden so schnell aus ihrer Heimat vertrieben und ermordet, ihr Besitz so schnell arisiert.

Ein Zeitzeuge jener Periode ist der Holocaust-Überlebende Rudolf Gelbart, der 1942 mit seinen jüdischen Eltern aus Wien in das KZ Theresienstadt deportiert wurde und dort als eines von wenigen Kindern überlebte. Günter Kaindlstorfer porträtiert den Sozialdemokratischen Freiheitskämpfer, der bis heute über die NS-Verbrechen aufklärt.
Im Musikbeitrag von Uli Jürgens erklingt das Saxofon und damit der Jazz, eine Musikrichtung die von den Nationalsozialisten als "entartet" betrachtet wurde.

Moderation: Wolfgang Ritschl
Redaktion: Tanja Malle und Ina Zwerger

Service

LITERATUR:

Kurt Bauer: "Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938 -1945", Fischer Verlag

Gerhard Botz: "Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung, Kriegsvorbereitung. 1938/39", Mandelbaum Verlag

Manfred Flügge: "Stadt ohne Seele. Wien 1938", Aufbau Verlag

Herbert Dohmen und Nina Scholz: "Denunziert", Czernin Verlag

Winfried Garscha, Heinz Arnberger, Christa Mittrrutzner: "Anschluss 1938. Eine Dokumentation", Österreichischer Bundesverlag 1988

Gerhard Jelinek: "Es gab nie einen schöneren März: 1938", Amalthea Verlag

Stefan Karner: "Die umkämpfte Republik", Studien Verlag
Walter Kohl: "Die dunklen Seiten des Planeten: Rudi Gelbard, der Kämpfer", Verlag Franz Steinmaßl

Claudia Kuretsidis-Haider "Österreichische Pensionen für jüdische Vertriebene. Die Rechtsanwaltskanzlei Ebner: Akteure Netzwerke Alte, DÖW

Mathias Lichtenwagner: "Belasteter Beton. Formen der Erinnerung an Orten der NS-Militärjustiz in Wien. In: Juliane Alton et al: "Verliehen für die Flucht vor den Fahnen" Das Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz in Wien, Wallstein Verlag

Maximilian Liebmann: ""Heil Hitler" - Pastoral bedingt", Böhlau Verlag

Ursula Mindler-Steiner "Die jüdische Bevölkerung besitzt wie bekannt großes Anpassungsvermögen...". Juden und Jüdinnen von Oberwart/Felsöör und ihre gesellschaftlich-kulturellen Verortungen. In: Martin Przybilski / Carsten Schapkow (Hgg.), Konversion in Räumen jüdischer Geschichte (= Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften Bd. 11). Wiesbaden 2014

Wolfgang Neugebauer, Thomas Mang, Elisabeth Boeckl-Klaper: "Gestapo Leitstelle Wien 1938 - 1945", Edition Steinbauer (erscheint im Mai 2018)

Hans Petschar: "Anschluss. Eine Bildchronologie", Brandstätter Verlag

Oliver Rathkolb: "Die paradoxe Republik: Österreich 1945 bis 2015", Zsolnay Verlag

Manfried Rauchensteiner: "Unter Beobachtung. Österreich seit 1918", Böhlau Verlag

Horst Schreiber (Hg.): "1938 - Der Anschluss in den Bezirken Tirols", Studien Verlag

Hans Schafranek: "Widerstand und Verrat", Czernin Verlag

Hans Schafranek und Herbert Blatnik: "Vom NS-Verbot zum Anschluss - Steierische Nationalsozialisten 1933-1938", Czernin Verlag

Holger Scheaeben: Am Nachmittag kommt der Führer. Schicksalsjahr 1938, Theiss Verlag

Emmerich Talos / Florian Wenninger: "Das austrofaschistische Österreich 1933 - 1938", LIT Verlag

Heidemarie Uhl: "Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese. Transformationen des "österreichischen Gedächtnisses", in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 - Arena der Erinnerungen", Deutsches Historisches Museum Berlin (Ausstellungskatalog)

Peter Pirker: "Subversion deutscher Herrschaft. Der britische Kriegsgeheimdienst SOE und Österreich", Vienna University Press

Harald Wendelin und Verena Pawlowsky: "Arisierte Wirtschaft", Mandelbaum Verlag

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