Das Ö1 Konzert

Musik in Zeiten der Diktatur

hr-Sinfonieorchester, Dirigent: Aziz Shokhakimov; Behzod Abduraimov, Klavier; Jürgen Ellensohn, Trompete. Suleiman Yudakov: Choresmischer Festumzug Dmitri Schostakowitsch: Konzert für Klavier, Trompete und Streicher Nr. 1 c-Moll op. 35 Sergej Prokofjew: Symphonie Nr. 5 B-Dur op. 100 (aufgenommen am 16. Februar in der Alten Oper Frankfurt). Präsentation: Peter Kislinger

Musik in Zeiten der Diktatur

Der usbekische Dirigent Aziz Shokhakimov war u.a. Gewinner des "Young Conductors Award" der Salzburger Festspiele 2016 und dirigierte im August 2017 im Preisträgerkonzert das ORF Radio-Symphonieorchester Wien. In Frankfurt dirigierte er drei Werke, die in der Sowjetunion der stalinistischen Diktatur entstanden. Als Eröffnungsstück stellte Shokhakimov ein Werk eines Komponisten usbekischjüdischer Herkunft vor.

Suleiman Yudakovs Kunst fürs Volk

Der 1916 geborene und 1990 in Usbekistans Hauptstadt Taschkent verstorbene Suleiman Yudakov gehörte zu der kleinen Gruppe der bucharischen Juden, die sich im Spätmittelalter in Zentralasien niedergelassen hatten. 1939 - 1941 studierte er in Mosau Komposition bei Reinhold Glière. Bis auf die Jahre 1943 - 1946, in denen er als Künstlerischer Leiter der Tadschikischen Staatsphilharmonie in Duschanbe wirkte, lebte und arbeitete Yudakov in Taschkent. Yudakov wurde vom Staats- und Parteiapparat der Sowjetunion mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt und übernahm Ämter in der Kulturbürokratie ("Leitender Sekretär der Union der Komponisten der Usbekischen SSR, deren Präsidiumsmitglied er 1977 wurde). Yudakovs umfangreiches Oeuvre umfasst Opern, Ballettmusiken, chorsinfonische Werke, Orchesterwerke, Lieder, Klaviermusik sowie Kompositionen für Film, Rundfunk und Bühne. 1944 schrieb er die Melodie für die Nationalhymne der Tadschikischen SSR; sie wird bis heute - seit dem Zerfall der Sowjetunion mit neuem Text - als die Hymne Tadschikistans verwendet.

Sehr ernste Scherze

Das Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester von Schostakowitsch wurde 1933 von den Leningrader Philharmonikern uraufgeführt. Den Klavierpart spielte der Komponist selbst. Nach der Verkündung des Dogmas des "Sozialistischen Realismus", eines "volksnahen" Stils, verschwand das Werk bis nach Stalins Tod (1953) aus sowjetrussischen Konzertsälen. Die Trompete erinnert an Elemente der Unterhaltungsmusik, der Music Hall, während das Klavier gleich im 1. Satz Beethovens "Appassionata"-Sonate zitiert und auf Rachmaninow-Manieren anspielt. Wie ist der Mix aus weiteren Anspielungen (Haydn, Tschaikowskys Melodik) und Zitaten aus zeitgenössischer Schlagermusik, Ravels Klavierkonzert G-Dur oder im Schlusssatz Beethovens "Rondo a capriccio" (populär geworden als "Die Wut über den verlorenen Groschen") zu verstehen? Er könnte zugleich als, sehr vergnügliche, Verneigung vor der Tradition und als Kritik sowohl ihrer Verklärung durch die Machthaber wie auch an versteinerten Hörtraditionen aufgefasst werden.

Zu Tode gehetzte feierliche Blasmusik

Groß ist die Versuchung, die 5. Symphonie von Sergej Prokofjew, losgelöst vom Kontext, ausschließlich als brillantes Virtuosenstück zu zelebrieren. Dieses im Sommer 1944 entstandene Werk sei die "Summe eines langen schöpferischen Lebens", schrieb der Komponist. 1932, kurz vor seiner Rückkehr in die Sowjetunion, versprach Prokofjew, er werde von nun an Musik schreiben, die "den neuen Menschen" darstelle, "den Kampf und die Überwindung der Hindernisse. Mit solcher Einstellung, mit solchen Erlebnissen möchte ich große musikalische Gemälde malen." Nach dem sich abzeichnenden Sieg der "drei Mächte" (Sowjetunion, Vereinigte Staaten und Vereinigtes Königreich) über Nazi-Deutschland schien diese 5. Sinfonie den Sieg dieses "neuen Menschen", eine Symphonie " der Größe des menschlichen Geistes" zu verherrlichen. Es liegt in der Natur des Mediums Musik, vor allem an der Qualität der musikalischen Mittel, dass dieses Werk auch anders verstanden werden kann.

Der 1. Satz beginnt wie eine Idylle. Bald melden sich die Blech- und Schlagzeugabteilungen zu Wort und karikieren das bukolische Thema. Der Mittelteil des 2. Satzes: eine Karikatur des vom Staatsapparat dekretierten Frohsinns? Der zunächst intime Klagegesang des 3. Satzes geht, mit entsprechend großer, bewegender Pathosgeste, bald an die Öffentlichkeit. Im Finalsatz scheint die Musik in die verordnete glückliche, "bessere", sowjetische Zukunft zu galoppieren, doch der Frohsinn mutiert unversehens, gnadenlos japsend und hechelnd, zu einer atemlosen Jagd. Es ist einer der faszinierendsten Sätze im großen Werk Prokofjews. Die letzten zwei Minuten nennt einer der besten Kenner der russischen Symphonik des 20. Jahrhunderts, der österreichische Sinfoniker Michael F.P. Huber, "schlichtweg genial - die feierliche Blasmusik marschiert auf und wird zu Tode gehetzt." Abgesehen von seiner 1. Symphonie, der "Symphonie classique", ist diese Symphonie Prokofjews meist aufgeführte und aufgenommene.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Suleiman Yudakow / 1916 - 1990
Titel: Choresmienischer Festumzug
Orchester: hr-Sinfonieorchester
Leitung: Aziz Schokakimow
Länge: 05:45 min
Label: EBU

Komponist/Komponistin: Dimitri Schostakowitsch/1906 - 1975
Titel: Konzert Nr.1 op.35 für Klavier und Orchester mit obligater Trompete
* Allegro moderato - 1.Satz
* Lento - 2.Satz
* Moderato - 3.Satz
* Allegro brio. Presto - 4.Satz
Klavierkonzert
Solist/Solistin: Behzod Abduraimow / Klavier
Solist/Solistin: Jürgen Ellensohn / Trompete
Orchester: hr-Sinfonieorchester
Leitung: Aziz Schokakimow
Länge: 22:25 min
Label: EBU

Komponist/Komponistin: Franz Schubert/1797 - 1828
Gesamttitel: Moments Musicaux op.94 DV 780
Titel: Moment Musical Nr.3 in f-moll op.94 DV 780 für Klavier - Allegro moderato
Solist/Solistin: Behzod Abduraimow / Klavier
Länge: 01:42 min
Label: EBU

Komponist/Komponistin: Sergej Prokofjew / 1891 - 1953
Titel: Symphonie Nr.5 in B-Dur op.100
* Andante - 1.Satz
* Allegro marcato - 2.Satz
* Adagio - 3.Satz
* Allegro giocoso - 4.Satz
Orchester: hr-Sinfonieorchester
Leitung: Aziz Schokakimow
Länge: 43:15 min
Label: EBU

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