Hildegard von Bingen

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Gedanken für den Tag

Eine Mystikerin zum Frühstück

von Angelika Walser, katholische Theologin und Professorin für Theologische Ethik an der Universität Salzburg

Als ich mein Frühstückcafé betrete, ist sie bereits da: Kein Wunder, eine adlige Äbtissin und Kirchenlehrerin kommt nicht zu spät! Sie hat sich schön gemacht für dieses Gespräch: Sie trägt keinen Schleier, die feinen weißen Haare fallen ihr locker auf die Schulter. Mir fällt ein, dass Zeitzeuginnen aus dem 12. Jahrhundert entrüstet berichten, wie Hildegard von Bingen mit ihren Nonnen das benediktinische Stundengebet zelebrierte: Goldgewirkte Kränze auf dem Haar, goldene Ringe an den Fingern, offene Haare...

"Sie wollten mit mir über die Grünkraft sprechen?", reißt sie mich aus meinen Gedanken. Genau, über die Grünkraft und die Klimakrise, präzisiere ich. Ich muss Hildegard von Bingen nicht lange erklären, was uns Menschen heute bewegt: Die Theologin und Mystikerin war auch Medizinerin und Naturwissenschaftlerin. Vielleicht hätte sie heute Quantenphysik studiert. Jedenfalls war sie stets auf der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Für sie ist das die Grünkraft, die Lebensenergie, der Élan vital. Ohne diese Grünkraft wäre nichts: Keine Bewegung, kein Wachstum, keine Vielfalt. Sie verbindet alle Ebenen des Lebens: Körperliches und Geistiges, Kosmos und Individuum. Die Grünkraft ist der Atem desjenigen, der nach wie vor in seiner Schöpfung wirkt. Sie lässt dort nach, wo Menschen sich von dieser Verbindung selbst abschneiden. Dann droht eine Klimakrise - aber nicht nur ökologisch, sondern nach Hildegard auch im spirituellen und moralischen Sinn. Hässliche Gestalten wie Missgunst und Hochmut treten auf den Plan.

Dort aber, wo Menschen wieder in die Balance finden zwischen Zuviel und Zuwenig; wo sie wieder eine liebevolle und barmherzige Verbundenheit mit allem Geschaffenen pflegen - dort grünt und blüht es wieder.

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Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Hildegard von Bingen 1098 - 1179
Album: Hildegard von Bingen und ihre Zeit - Geistliche Musik des 12.Jhs
Titel: O frondens virga - Instrumentalstück nach der Antiphon
Ausführende: Ensemble für frühe musik augsburg
Ausführender/Ausführende: Heinz Schwamm
Ausführender/Ausführende: Sabine Lutzenberger
Ausführender/Ausführende: Hans Ganser
Ausführender/Ausführende: Rainer Herpichböhm
Länge: 05:24 min
Label: Christophorus 74584

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