Zwischenruf

Auf einen Kaffee mit Immanuel Kant

von Matthias Geist, evangelisch-lutherischer Superintendent in Wien

Es gibt ja manchmal diese Gedankenspielchen: Mit welcher verstorbenen Persönlichkeit würden Sie gern auf einen Kaffee gehen? Elvis? Marie Curie? Oder Jesus von Nazareth? Ich mit allen von ihnen sehr gerne. Und gerade jetzt, im Umfeld seines 300. Geburtstages, mit Immanuel Kant. Er steht auf der Liste meiner Lieblingsdenker ganz oben, weil er in der Philosophie eine entscheidende Wende geschafft hat.

Kant weist nämlich darauf hin, dass nicht wir die Welt, wie sie ist, erkennen können. Vielmehr bestimmen wir selber mit, wie wir die Welt beschreiben und erkennen können. Es bin also ich selber, der sich seine Welt erst zurechtdenkt, damit ich mich in ihr zurechtfinde. Und das ist aus meiner Sicht hoch relevant für die Theologie. Ob Gott existiert oder nicht, ist gar nicht die Frage, sondern was die Idee von Gott eigentlich mit uns macht. Diese Radikalkritik Kants hilft.

Drei Beispiele nenne ich: Wir neigen ja in kirchlichen Lebensäußerungen manchmal zu Ablenkungsmanövern, Machtspielchen und religiöser Folklore. Und betreiben nach Kant dabei "bloßen Religionswahn und Afterdienst Gottes". Klingt hart. Ist aber auch meine Erfahrung, wenn wir uns in, zugespitzt gesagt, unnötigem Götzendienst verlieren und zum Teil "goldene Kälber" anbeten. Statt uns in gelebter Botschaft von der Versöhnung unter uns Menschen zu üben. Das kritisiert die Jugend zurecht, wenn sie sich am Glaubensleben mancher Gruppen reibt.

Ein zweites Beispiel. Wir suchen oft - gedrängt durch die Leistungsgesellschaft - "die" Lebensoptimierung. Mit Leistung, Geld und Wachstum. Und finden dann aus dem Strudel der vermeintlichen Nützlichkeit gar nicht mehr heraus. Moralisch ist das nach Kant nicht, weil nicht als allgemeine Maxime tauglich. Das verstehen junge Menschen, die ihre Zeit anders erleben möchten, als sich von früh bis spät ins Arbeitsleben zu vertiefen. Sie wollen auch Zeit haben, für sich und ihresgleichen eine lebenswerte Welt der Zukunft zu erhalten und zu gestalten.

Und ein drittes Beispiel, was mich in Bezug auf künstliche Intelligenz und ebenso auf die Seelsorge irritiert. Menschen lassen sich nicht nach statistisch erhobenen Wesensmerkmalen kategorisieren und schon gar nicht zu Fragen der Versöhnung leiten. Seelsorge nämlich geht in die Tiefe und unterstützt im Sosein, in der Konstruktivität des Lebens, in der Bewältigung.

Vielleicht war Immanuel Kant für unsere Zeit zu moralisierend und von einer äußerst utopischen "Reich Gottes"-Vorstellung getrieben, die ein versöhntes Zusammenleben unter uns Menschen erzielen könnte. Aber er hat dazu beigetragen, diese Welt anders kennenzulernen und nicht in ihrer Engführung, sondern in einer kritischen und einzigartigen Sicht zu betrachten. Kant schafft es, rationales Denken und theologische Praxis auf ganz neue Weise zusammenzudenken. Aus Wertschätzung vor den Menschen. Aus demokratiepolitischer Umsicht. Und aus meiner Lebenseinsicht und Überzeugung. Und zu dieser rät uns der Jubilar Immanuel Kant eigentlich jeden Tag. Er bleibt über die Jahrhunderte hinweg relevant.

Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Keith Jarrett
Album: PARIS / LONDON: TESTAMENT
Titel: Part III/instr./live
Gesamttitel: LONDON
three
Solist/Solistin: Keith Jarrett /Piano
Länge: 06:50 min
Label: ECM Rec. 2130-32 / 2709583 (3 CD)

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