Gedanken für den Tag
"Wer nicht liest, kennt die Welt nicht" von Cornelius Hell
16. November 2010, 06:57
Cornelius Hell ist Literaturkritiker und Übersetzer.
Lesen eröffnet fiktive Bilder, von denen aus die sogenannte Realität in einem anderen Licht erscheint und genauer zu sehen ist. Lesen ist ein Ort, wo jede und jeder zu sich selbst kommt und spielerisch einen neuen Blick auf die Welt ausprobieren kann. Lesen, die "Lust am Text" (Roland Barthes), ist ein Lebensmotor, der auch dann seine Energien entfalten kann, wenn das Leben außerhalb der Bücher trist und brüchig ist. Lesen kann auch ein religiöser Akt sein - nach jüdisch-christlicher Überzeugung offenbart sich Gott in Literatur - in der Bibel. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer
In einen gelben Umschlag verpackt, den ich noch immer vor mir sehe, trat plötzlich die weite Welt in das Dorfleben meiner Kindheit: Heinrich Harrers Buch "Sieben Jahre in Tibet" hat mir als Volksschüler im Salzburger Land zum ersten Mal die Faszination einer fremden Welt und einer ganz anderen Religion eröffnet. Und bevor ich von Paris oder New York wusste, war Lhasa die Stadt meiner Träume.
Heute ist Vilnius meine Traumstadt, die Hautstadt Litauens. So oft ich sie auch besucht habe, richtig vertraut mit jeder ihrer Straßenecken bin ich erst, seit ich im Vorjahr den Vilnius-Band in der Reihe "Europa erlesen" herausgegeben habe. Dafür habe ich Texte über Vilnius aus sieben Jahrhunderten gesammelt - Zeugnisse historischer Ereignisse, aber auch einsamer Faszinationen und persönlicher Erkundungen in Gebäuden und Stadtlandschaften. Seit ich diese Texte gefunden und gelesen habe, sehe ich mehr, wenn ich in der Stadt bin.
"Wer nicht liest, kennt die Welt nicht", hat Arno Schmidt kurz und bündig formuliert. Möglichst viel zu erleben reicht dafür nicht aus, denn erst aus der Deutung von Erlebtem wächst Erfahrung und Weltkenntnis. Lesen ist ein Ort, wo jeder und jede einen neuen Blick auf die Welt ausprobieren kann.
Lesen heißt in diesem Fall freilich: Nicht Informationstexte aufsaugen, sondern eintauchen in fiktive literarische Welten. "Indem fiktionale Texte uns dazu veranlassen, unsere ursprünglichen Urteile über diese oder jene Menschen zu überdenken, helfen sie uns, uns aus unserer Vergangenheit und kulturellen Umwelt zu lösen", schreibt Richard Rorty in seinem Essay "Der Roman als Mittel der Erlösung aus der Selbstbezogenheit".
Fremde Länder und Kulturen - um sie kennenzulernen, braucht es nicht nur Reiseführer oder politische und soziologische Analysen. Literatur findet und erfindet Bilder für Mentalitäten und Lebenszusammenhänge, und die wirken oft nachhaltiger als Theorien. So ist Literatur die intensivste Brücke in unbekannte Regionen, aber auch in die Vergangenheit der eigenen Gesellschaft. Das Leben früherer Generationen ist in der Literatur am besten aufbewahrt - aber nicht als tote, "konservierte" Materie, sondern so, dass wir zu Mitspielern werden.
Service
Buch, Cornelius Hell (Hg.), Europa erlesen: Vilnius, Wieser Verlag
Buch, Richard Rorty, Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit, In: "Dimensionen ästhetischer Erfahrung", herausgegeben von Joachim Kupper und Christoph Menke, Suhrkamp Verlag
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