Gedanken für den Tag
"Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah - zum 90. Geburtstag von Paul Celan" von Lydia Koelle
25. November 2010, 06:57
Lydia Koelle ist Professorin für Systematische Theologie am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaft der Universität Paderborn.
Paul Celan hat seine Gedichte einmal als Geschenke an die Aufmerksamen bezeichnet. Sie sind ein verzweifeltes Gespräch, ausgerichtet auf einen ebenso realen wie utopischen Gesprächspartner. 1920 als Paul Antschel und Sohn jüdischer Eltern, die in der Shoah ermordet wurden, in der Bukowina geboren, gilt Paul Celan als einer der bedeutendsten Lyriker der Nachkriegszeit.
Die theologische Begegnung mit Celan führt fast zwangsläufig zur Theodizeefrage und zum Problem des Gottesverständnisses nach Auschwitz, denn die Vernichtung der Juden durch die Nazis ist das historische Datum, von dem Celans Dichtung sich herschreibt. Die deutsche Theologin Lydia Koelle will aus dem Werk Celans nicht einfach eine theologische Theorie herausdestillieren, aber die Traditionen benennen, in denen Celan in der Auseinandersetzung mit den religiösen Überlieferungen von Judentum und Christentum seinen geistigen Standpunkt bestimmt. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer
Welcher Gemeinschaft wollte sich Paul Celan zugehörig fühlen? Noch in Czernowitz übersetzte er zwei Gedichte von Jehuda Halevi aus dem Hebräischen. "Im Osten weilt mein Herz, ich selbst im fernen West", lautet ein Vers aus dessen berühmter "Zionide", einem Gedicht der Zionsliebe.
Vielleicht kann man sagen, dass sich Celan zunächst nicht von seinem Judentum herschrieb, er grub sich vielmehr tiefer und tiefer seinen jüdischen Wurzeln zu, je weiter er sich zeitlich vom Ort seiner Herkunft entfernte.
Es war noch ein weiter Weg zurückzulegen vom Erstlingswerk, in dem biblisch-jüdische Anspielungen sich im Spiel der Metaphern in eine surrealistische Bilderwelt einreihten, bis zu einem Gedichtband wie "Die Niemandsrose" (GW 1/205-291), in der jede dieser biblisch- oder mystisch-jüdischen Reminiszenzen mit letztem Ernst in Celans Sprache eingesenkt wurden. Und es war auch ein schmerzlicher Schritt von der "Musikalität" der "Todesfuge" (GW 1/39 u. 3/61) zur "graueren" Sprache des Spätwerks, da ihm, dem Davongekommenen, eine "Ästhetisierung Grauens", aus der er "dichterisch Kapital" schlage, vorgeworfen wurde.
In den Vorstufen zu der Dankesrede, die Celan hielt, als ihm 1960 der Büchnerpreis verliehen wurde, notierte er: "Wer nur der Mandeläugig-Schönen die Träne nachzuweinen bereit ist, der tötet auch sie, die Mandeläugig-Schöne, zum andern Mal. Den Krummnasigen, Kielkröpfigen, den Einwohnern der stinkenden Judengassen, den Mauschel-Mäulern - ihrer gedenkt das grade Gedicht - das Hohe Lied".
Celans Rede 1958 in Bremen gibt einen deutlichen Hinweis auf das Land seiner Herkunft, die Bukowina. Er charakterisiert sie als Heimat der chassidischen Geschichten, "die Martin Buber uns allen auf deutsch wiedererzählt hat" (GW 3/185). Paul Celan bewahrte sich auch 1969 in Israel das Recht auf Fremdheit, inmitten einer jüdischen Gemeinschaft ein anderer Jude zu sein, als der, den man von ihm erwartete. 1970 schrieb er in einem Brief an den Zeitungsverleger Gershom Schocken nach Israel, dass für ihn das Jüdische mehr eine "pneumatische" als eine "thematische" Angelegenheit sei: "Meine Gedichte implizieren mein Judentum", so Celan.
Und nur wenige Tage vor seiner Reise nach Israel, am 17. September 1969, schrieb Paul Celan über die erste Fassung seines Gedichts "Ein Stern" die ursprünglich französische Notiz: "Mein Judentum: Das, was ich in den Trümmern meiner Existenz noch (an)erkenne."
Service
Zeitschrift, Barbara Wiedemann, Im Osten weilt mein Herz. Gedichte von Jehuda Halevi in der Übersetzung von Paul Celan. In: Arcadia (Celan und/in Europa) 32 (1997) 28-37
Zeitschrift, Reinhart Baumgart, Unmenschliches beschreiben. Weltkrieg und Faschismus in der Literatur. In: Merkur 202 (Januar 1965)
Zeitschrift, Konrad Schacht. Auschwitz als Kunstacker. In: Die Zeit. Hamburg, vom 12.3.1965
Buch, Paul Celan. Der Meridian. Endfassung - Entwürfe - Materialien. Hg. v. Bernhard Böschenstein/Heino Schmull unter Mitarb. v. Michael Schwarzkopf u. Christiane Wittkop, Frankfurt/M. 1999
Buch, Lydia Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum. Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah, Mainz 1997
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