Gedanken für den Tag

"Über das Wunder der Seele" - Zum 750. Geburtstag von Meister Eckhart. Von Cornelius Hell

Cornelius Hell ist Literaturkritiker und Übersetzer.

Umstritten in seiner Zeit, ist Meister Eckhart bis heute eine der kreativsten und faszinierendsten Gestalten des Christentums. Er wurde als Mystiker und Freigeist verstanden, war Dominikanermönch und wurde als Häretiker verurteilt. Als Philosoph und Theologe nahm er an den intellektuellen Debatten von Paris am Ende des 13. Jahrhunderts teil, als Mönch und Prediger zeigte er neue Wege zur Selbsterkenntnis und zu einer Lebensführung, in deren Mittelpunkt die Gelassenheit, das Loslassen steht. Für diejenigen, die Meister Eckhart lesen, mag er einen subjektiven Zugang zum Göttlichen und zum "Wunder der Seele" vermitteln. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

In einer Woche ist schon Weihnachten. Für mich wird es nicht ganz leicht werden, das erste Weihnachtsfest ohne meine vor kurzem verstorbene Mutter. Aber feiern werden wir es, schon unserer kleinen Tochter wegen. Wer Kinder hat, kommt an Weihnachten nicht vorbei. Nicht nur, weil man den Kindern dieses Fest nicht nehmen kann. Wer erlebt hat, wie ein Kind auf die Welt kommt, ist von der Grundidee des Weihnachtsfestes, dass sich das Göttliche in einem neugeborenen Kind zeigt, nicht so leicht abzubringen. Vielleicht ist es deswegen das größte christliche Fest, weil das für so viele Menschen nachvollziehbar ist.

Die meisten christlichen Theologen sagen freilich, nicht Weihnachten sei das größte Fest, sondern Ostern - das Fest der Erlösung. Meister Eckhart sieht es anders. Für ihn ist die Geburt des Gottessohnes kein einmaliges Ereignis, sondern Gott ist ein ständiges Gebären; in einer Predigt sagt er:

Ich ward einst gefragt, was der Vater im Himmel täte. Da sagte ich: Er gebiert seinen Sohn, und dieses Tun ist ihm so lustvoll und gefällt ihm so wohl, daß er nie etwas anderes tut als seinen Sohn gebären, und sie beide blühen den Heiligen Geist aus.

Und für Meister Eckhart geschieht die Geburt des göttlichen Kindes nicht nur in Jesus, sondern in jedem Menschen. Ganz emphatisch schreibt er in einer anderen Predigt:

Der Vater gebiert seinen Sohn ohne Unterlaß, und ich sage mehr noch: Er gebiert mich als seinen Sohn und als denselben Sohn. Ich sage mehr noch: Er gebiert mich nicht allein als seinen Sohn; er gebiert mich als sich und sich als mich und mich als sein Sein und als seine Natur. Im innersten Quell, da quelle ich aus im Heiligen Geiste; da ist ein Leben und ein Sein und ein Werk.

Dass Gott in der Seele des Menschen, eines jeden Menschen, geboren werde - darin mündet für Meister Eckhart die Weltschöpfung, die Heilige Schrift und jede religiöse Praxis. Ein kühner und großer Gedanke, der von keinem Weihnachtskitsch beschädigt werden kann. Ein Gedanke, der auch dann fasziniert, wenn Weihnachten einmal nicht fröhlich und leicht zu feiern ist.

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Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: GFT 101217 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 02:41 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

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