Da capo: Im Gespräch
"Die Menschheit steht vor einem Wendepunkt". Michael Kerbler spricht mit Heiner Flassbeck, Chefökonom der UNCTAD, der UNO-Organisation für Handel und Entwicklung
19. August 2011, 16:00
Der demokratisch verfasste Staat im 21. Jahrhundert verliert zunehmend an Souveränität. Macht und Politik im Nationalstaat sind geschieden, weil der Nationalstaat sich auflöst und die wirklich wichtigen ökonomischen Entscheidungen großer Tragweite im globalen Raum fernab demokratischer Kontrolle getroffen werden. Die Fragmentierung der Gesellschaft beschleunigt sich. Der Einzelne - auf sich allein gestellt - erlebt die Gesellschaft oft nicht mehr als Gemeinschaft, sondern bestenfalls als Netzwerk.
Der Rückzug ins Private, der als gesellschaftliches Phänomen in vielen Staaten der westlichen Hemisphäre registriert wird, gilt als Indiz dafür, dass die Bevölkerung ebenso wie die Politik überfordert ist, die großen fünf Krisen der Gegenwart zu beurteilen, zu beschreiben und Problemlösungen auf den Weg zu bringen. Diese fünf Krisen sind: die Finanzkrise, die Arbeitskrise, die Handelskrise, die Klimakrise und - nicht zuletzt - die Schuldenkrise.
Heiner Flassbeck, Chefökonom der UNCTAD, der UNO-Organisation für Handel und Entwicklung, und einst Staatssekretär im deutschen Finanzministerium in Berlin, diagnostiziert: "Die Menschheit steht vor einem Wendepunkt." Der Ökonom sieht nicht nur die intakte Natur, sondern auch die europäische Integration und - darüber weit hinausreichend - die globalisierte Wirtschaft bedroht. Für die Marktwirtschaft sieht Heiner Flassbeck nur dann auf Dauer eine Existenzberechtigung, wenn sie es schafft, "allen Bürgern eine systematische Chance auf Verbesserung ihrer Lebensumstände zu geben".
Dazu gehört, die Kaufkraft der Bürger zu stärken, um Währungen - wie zum Beispiel den Euro - langfristig abzusichern. Dazu gehört außerdem die Finanzwirtschaft einem Regulativ zu unterwerfen, das den Kasinokapitalismus beendet und Aktien dauerhaft zu dem macht, was sie sein sollten: Wertpapiere.
Service
Heiner Flassbeck, "Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts", Westend-Verlag, Frankfurt/Main (ISBN 978-3-938060-54-4)
Heiner Flassbeck, "Gescheitert. Warum die Politik vor der Wirtschaft kapituliert", Westend-Verlag, Frankfurt/Main (ISBN 978-3-938060-22-3)
Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker, "Das Ende der Massenarbeitslosigkeit. Mit richtiger Wirtschaftspolitik die Zukunft gewinnen", Westend-Verlag (ISBN 978-3-938060-20-9)
John Kenneth Galbraith, "Ein kurze Geschichte der Spekulation", mit einem neuen Vorwort von Uwe Jean Heuser, Eichborn Verlag, Frankfurt/Main (ISBN 978-3-8218-6511-9)
Josef Stiglitz, "Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft", Siedler Verlag (ISBN 978-3-88680-942-4)
Stephan Schulmeister, "Mitten in der großen Krise. Ein "New Deal" für Europa", Edition Gesellschaftskritik, Picus Verlag, Wien (ISBN 978-3-85452-586-8)
Robert Skidelsky, "Die Rückkehr des Meisters. Keynes für das 21. Jahrhundert", Verlag Kunstmann (ISBN 978-3-88897-647-6)
Thomas Strobl, "Ohne Schulden läuft nichts. Warum uns Sparsamkeit nicht reicher, sondern ärmer macht", Deutscher Taschenbuchverlag - dtv (ISBN 978-3-423-24831-0)