Radiokolleg - Die Kluft wird größer - schrumpft die Mittelschicht?

(1). Gestaltung: Ute Maurnböck

Während sie in Ländern wie Russland oder Indien wächst, wird in Westeuropa und den USA eine Krise der Mittelschicht ausgerufen. Die meisten von uns zählen sich zu denen, die demokratisch und wirtschaftlich die Säulen der Gesellschaft bilden und das Staatssystem finanzieren. Gleichzeitig scheint eine Abgrenzung zur Unterschicht hin wichtig zu sein. Gerne strapaziert die Mittelklasse den Begriff der "Melkkühe der Nation", vergessend, dass nicht nur die Unterschicht, sondern sie selbst genauso vom Staat profitiert, sei es in Form von Arbeitslosengeld, Pflegefreistellungen oder öffentlichen Bildungseinrichtungen.

Seit dem Bürgertum gibt es Menschen, die sich der Mitte zuordnen, und seit damals besteht die Furcht, aus dieser Mitte herauszufallen und in die Armut abzurutschen. Dabei hat sich eben diese Mitte als kreativ erwiesen. Die Mitte heute besteht weniger aus Kaufleuten oder Handwerkern, sondern vorwiegend aus Angestellten. Wobei die unzähligen Definitionen, die die Mittelschicht von der Unter- bzw. Oberschicht abgrenzen, häufig irreführend sind oder willkürlich scheinen. Denn nicht nur Einkommen, sondern auch Bildung und Werte werden von Mittelschichtsangehörigen als Parameter angegeben.

Fakt ist aber auch: die Arbeitsverhältnisse ändern sich. Zu beobachten ist, dass die Einkommen aus Arbeit sinken, die Einnahmen aus Vermögen jedoch massiv gestiegen sind. Die Einkommenspolarisierungen geben Anlass für Spekulationen, dass die Mittelschicht schwindet. Wenn immer mehr Menschen nicht von ihrem Einkommen leben können, wird auch weniger in einen gemeinsamen staatlichen Topf einbezahlt. Unsichere Pensionszahlungen, Zweiklassenmedizin, ungleiche Bildungseinrichtungen für Kinder der verschiedenen Schichten werden als wahrscheinliche Szenarien beschrieben, manche sind bereits Realität.

Viele leben schlecht von 40-Stunden-Anstellungen oder hanteln sich von einem prekären Job zum nächsten. Wer ums wirtschaftliche Überleben kämpft, interessiert sich weniger für Politik - auch ein Rückgang an politischer Mitbestimmung wird als mögliche Folge einer schwindenden Mittelschicht befürchtet. Wie sehr verändert sich unsere Gesellschaft tatsächlich? Und wenn sie das tut: was bedeutet das für uns alle?

Service

Robert Castel (Hg.) , Klaus Dörre (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts
Klaus Dörre/ Bernd Röttger (2006): Im Schatten der Globalisierung. Wiesbaden. VS Verlag
Ulrike Herrmann: Hurra, wir dürfen zahlen! Der Selbstbetrug der Mittelschicht. Westend Verlag 2010
Katja Kullmann: Echtleben, Eichborn-Verlag, Frankfurt/Main 2011
Karl Lauterbach Der Zweiklassenstaat. Berlin: Rowohlt, 2007
Markus Marterbauer: Zahlen bitte! Die Kosten der Krise tragen wir alle. Verlag Deuticke 2011
A. Mielck, K. Bloomfield (Hrsg) : Sozialepidemiologie. Weinheim: Juventa, 2001
J. Siegrist, M. Marmot (Hrsg). Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Bern:
Huber, 2008
Tiesmeyer K, Brause M et al. (Hrsg). Der blinde Fleck. Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung. Bern: Huber, 2008
Verwiebe, Roland (2010) Wachsende Armut in Deutschland und die These der Auflösung der Mittelschicht. Eine Analyse der deutschen und migrantischen Bevölkerung mit dem Sozioökonomischen Panel. S. 159-180. in Berger, Peter A. / Burzan, Nicole (Hg.) Dynamiken (in) der gesellschaftlichen Mitte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
RG. Wilkinson Kranke Gesellschaften. Wien New York: Springer; 2001;
RG. Wilkinson, K. Pickett: Gleichheit ist Glück. F/M: Zweitausendeins, 2009

Gesundheitsbefragung 2006/07
Martin Schürz: Essay "Kein Abschied von der Mitte"
http://www.bmask.gv.at/cms/site/attachments/5/4/1/CH0184/CMS1229091777409/s_2009_umverteilung_36801$[1.pdf|WIFO-Verteilungsstudie: A. Guger, Martina Agwi, A. Buxbaum, u.a.]

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