Radiokolleg - Die finstere Epoche
Verdient das Mittelalter seinen schlechten Ruf? (4). Gestaltung: Brigitte Voykowitsch
10. November 2011, 09:05
"Die Taliban wollen Afghanistan ins Mittelalter zurückbomben." "Islamisten wollen die muslimische Welt ins Mittelalter zurückführen." "Das ist ja wie im Mittelalter!" Sätze, wie diese sind in Europa ebenso wie außerhalb Europas - auch in der muslimischen Welt - zu hören. Mit einem einzigen Wort - Mittelalter - scheinen sich alle Vorstellungen von Rückständigkeit, Primitivität und Kulturlosigkeit fassen zu lassen.
Hexenverbrennung, Inquisition, Intoleranz und dergleichen mehr werden mit dem Mittelalter assoziiert. Mediävisten sind um eine Korrektur dieses Images bemüht. Auch sie stellen das Mittelalter nicht als Goldenes Zeitalter dar - das es ohnehin nur als Mythos gibt -, doch ihr Anliegen ist es, die gesamte Komplexität der Zeit, die das Mittelalter genannt wird, zu erforschen und darzustellen. Sie verweisen auch darauf, dass sich in dieser Epoche in vielen Bereichen jene geistigen und kulturellen Ansätze finden, die in späteren Jahrhunderten dann zur Blüte fanden.
Im Mittelalter entstanden die Universitäten ebenso wie die für die christliche Kultur zentralen Debatten über das Verhältnis von Glauben und Vernunft, doch auf intellektuelle Aufbrüche folgten - oft auch durch politische und machtpolitische Entwicklungen bedingt - wieder Rückschläge. Zum Ende des Mittelalters waren z. B. die Universitäten so erstarrt, dass die Humanisten der Renaissance außerhalb der Universitäten tätig wurden. Auch die Kathedrale, die zu den wertvollsten Baudenkmälern zahlloser europäischer Städte gehört, ist eine Schöpfung jener Zeit, wiederum gilt aber: Kunstgeschichtlich bedeutende Neuerungen gehen nicht unbedingt mit theologischen Aufbrüchen einher.
Wie problematisch der Begriff Mittelalter ist, wird auch deutlich, wenn man über den engen Rahmen des christlichen Abendlandes hinausblickt - die islamische Welt vom 9. bis zum 13. Jahrhundert war eine absolute Blütezeit der islamischen Kultur, Philosophie und Kunst, deren Untergang führende muslimische Intellektuelle bis heute bedauern und zu ergründen versuchen. Generell gilt: Aufbrüche in der intellektuellen und künstlerischen Welt gingen nicht immer einher mit Fortschritten auf sozialem und auf politischem Gebiet. Alle diese Faktoren und viele neue Forschungen erfordern eine sehr sorgfältige Bewertung einer Epoche wie der des Mittelalters.
Service
Jacques Le Goff,
Für ein anderes Mittelalter, Ullstein 1984
Das Hochmittelalter. Fischer Weltgeschichte 11
Die Intellektuellen im Mittelalter, Klett-Cotta 2001
Kaufleute und Bankiers im Mittelalter, Wagenbach 2009
Hans-Werner Götz,
Die Aktualität des Mittelalters, Winkler 2000
Europa im frühen Mittelalter, UTB 2003
Leben im Mittelalter, Beck 1996
Proseminar Geschichte Mittelalter, UTB 2006
Mediävistik im 21. Jahrhundert, Fink 2003
Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Ullstein 2004