Gedanken für den Tag

Von Cornelius Hell. "Manche kommen aus dem Staunen nicht heraus, manche nie hinein" - Zum 80. Geburtstag der Schriftstellerin Elfriede Gerstl. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Elfriede Gerstl, die als Kind mit ihrer Mutter vor den Nazis untertauchte und sich "tot oder schon deportiert stellte", hat im Kohlenkeller zu lesen begonnen, wenn die Sonne selten genug durch den kleinen Lichtspalt der Verdunkelung drang und die Nazis nicht mit Bajonetten nach ihr stocherten.

manche kommen aus dem staunen nicht heraus
manche nie hinein

Ein Satz aus Elfriede Gerstls Gedichtband "mein papierener garten", den ich mir sofort gemerkt habe. Und der mir einfällt, wenn ich selbst aus dem Staunen herauskomme und alles nehme, wie es halt ist. Dann geht mit dem Staunen auch die Freude verloren und die Lust, Menschen und Dinge anders zu sehen. Aber wenn ich Elfriede Gerstl lese, kehrt diese Lust sehr schnell wieder. Ihre Poesie findet sich nicht ab mit dem, was ist; der sogenannten Realität setzt sie ihre Dichtung entgegen - zum Beispiel das vierzeilige Gedicht "dichten wollen":

dichten wollen
aber die verhältnisse
sind in prosa
nichts schwebendes

Darum haben ihre Gedichte eben dieses Schwebende, Leichtfüßige, das die Verhältnisse aufbricht. Im Wien der 1950er Jahre gehörte sie zur Avantgarde und wollte die Sprache aufbrechen. Wien war damals allerdings ein schwieriges Pflaster für Sprachwitz und literarische Experimente; so lebte Elfriede Gerstl einige Jahre in Berlin. Dazu kommt, dass sie sich in keine Gruppe einreihen und nicht nach einer bestimmten Methode schreiben wollte. Und dass natürlich auch die Avantgarde damals männerdominiert war. Und so ist Elfriede Gerstl übersehen worden - Jahrzehnte lang. So hat sie am Existenzminimum gelebt, und die Trödler suchte sie nicht nur aus Interesse auf, sondern auch aus Notwendigkeit. Das Schreiben hat sie nicht aufgegeben - das war ihre Lebensform. Davon spricht das Gedicht "von der kraft der sätze"

manchmal ist ein satz eine stählerne konstruktion
ein anderer ist eine umarmung
dieser ein haus aus kleidern
jener verdünnt und verdickt sich
und pulsiert in dir
der da verwandelt die bäume
zu armen aus krallenhänden
und einer lässt mich als weisse wolke
in blauseidene himmel fliegen

Service

Buch, Elfriede Gerstl, "Neue Wiener Mischung. Gedichte und anderes", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Mein papierener Garten. Gedichte und Denkkrümel", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Lebenszeichen. Gedichte, Träume, Denkkrümel", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Mittellange Minis. Werke Band 1", herausgegeben und mit einem Nachwort von Christa Gürtler und Helga Mitterbauer, Literaturverlag Droschl
Buch, Konstanze Fliedl, Christa Gürtler (Hg.), "Elfriede Gerstl", Literaturverlag Droschl
Buch, Christa Gürtler, Martin Wedl (Hg.), "Elfriede Gerstl. wer ist denn schon zu hause bei sich", Paul Zsolnay Verlag

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Playlist

Titel: GFT 120612 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:45 min

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