Radiokolleg - Dem Verbrechen auf der Spur

Strafe, Stigma und soziale Erneuerung
(4). Gestaltung: Marlene Nowotny

"Das Verbrechen" gibt es nicht. Die Tat muss von einer Gesellschaft erst als eine verbrecherische definiert werden. Während der Konsum von Alkohol in Österreich legal ist, stellt der Kauf des möglicherweise harmloseren Marihuanas eine Straftat dar. Während ein Bankräuber von der Gesellschaft klar als Krimineller klassifiziert wird, müssen sich Wirtschaftsverbrecher und Steuerhinterzieher nicht mit diesem sozialen Stigma herumschlagen. Im Zweifel für den Angeklagten.

Da das Verbrechen als solches nicht existiert, eignet es sich als Konzept besonders gut, um jede Art der sozialen Kontrolle zu ermöglichen. Die Strafandrohung allein soll die Einhaltung der Normen von allen Bürgern und Bürgerinnen gewährleisten, das Gefängnis als letzte Instanz eine Korrektur des Verhaltens zum Besseren herbeiführen. "Ein seltsames Ding, unsere Strafe! Sie reinigt nicht den Verbrecher, sie ist kein Abbüßen: im Gegenteil, sie beschmutzt mehr als das Verbrechen selber", schrieb Friedrich Nietzsche über die Strafe und die sozialen Folgen des Gefängnisaufenthalts.

Wie groß ist also die Menge an Verbrechen, die eine Gesellschaft verkraften kann oder vielleicht auch braucht? Der französische Soziologe Émile Durkheim beschäftigte sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit dieser Frage. In seinem Werk "Regeln der sozialen Methode" erklärte er, warum Kriminalität auch als sozialer Katalysator wirken kann: als ein Kontrast zum "Richtigen" und "Guten". Die Grenze zwischen erlaubtem oder erwünschtem Verhalten und verbotenem Handeln wird so klarer, die sozialen Normen werden bekräftigt. Hinzu kommt, Verbrechen kann sozialen Wandel auslösen. Émile Durkheim schreibt dazu: "Wie oft ist das Verbrechen wirklich bloß eine Antizipation der künftigen Moral, der erste Schritt in dem was sein wird."

Welche "Verbrechen" sind also Ausdruck sozialer und politischer Missstände? Welche Ansätze wählt die Wissenschaft, um Kriminalität und Kriminelle zu kategorisieren und ihr Verhalten zu erklären? Und wie übersetzt sich die Einstellung einer Gesellschaft zu Verbrechen und Strafe in Politik, Wissenschaft und Populärkultur?

Service

René König (1978): Emile Durkheim zur Diskussion. Jenseits von Dogmatismus und Skepsis, Hanser Verlag
Émile Durkheim(1976/1895):Die Regeln der soziologischen Methode (Aus dem Französischen von René König). Suhrkamp Verlag
Peter Becker (2005): Dem Täter auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminalistik, Primus Verlag
Peter Becker (2002): Verderbnis und Entartung. Zur Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
Felix Hasler (2012): Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Transcript Verlag
Robert Louis Stevenson (2004/1886): Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde (Aus dem Englischen von Grete Rambach), Insel Taschenbuch Verlag
Jan Pinseler(2010): Der gefährdete Alltag. Oder: Wie "Aktenzeichen XY . ungelöst" die Welt sieht. IN: Alltag in den Medien - Medien im Alltag, VS Verlag für Sozialwissenschaften
Erving Goffman (1973/1961): Asyle - Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen (Aus dem Amerikanischen von Nils Lindquist). Suhrkamp Verlag


Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie
Kriminalitätsstatistik des Bundesministerium für Inneres
Mediaperspektiven - Themenprofile im Nonfictionangebot deutscher Fernsehsender

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