Radiokolleg - Der Kinderwunsch als Grenzerfahrung
Trauma, Therapie und Technologie der Fortpflanzung (1). Gestaltung: Ina Zwerger
7. April 2014, 09:05
"Nachts kriegt sie kein Auge zu, seit zwei Tagen hat sie üble Schmerzen im unteren Rücken, abends spricht sie mit den Brummern und würde sich danach am liebsten eine knallen, denn der ganze Spuk ist vermutlich in zehn Tagen schon wieder vorbei", schreibt Flora in ihrem Blog "Eiertanz". Die "Brummer" sind drei befruchtete Eizellen, die bis vor kurzem im Tiefkühler einer Hamburger Kinderwunschklinik lagen: ein Sechszeller, ein Vierzeller und ein Zweizeller, die tiefgefrorenen Reste ihrer jüngsten gescheiterten IVF-Behandlung. Aber tatsächlich, beim 13. Versuch, nach vier Jahren Kinderwunschbehandlung wird Flora mit einem dieser "Kryo-Eier" schwanger. Sie erlebt keine weitere, frühzeitige Fehlgeburt und bringt neun Monate später ihr erstes Kind auf die Welt. Sie ist knapp 40 und ihr Sohn ist einer von bereits mehr als fünf Millionen Menschen weltweit, die im Labor gezeugt wurden.
Der Anteil der "künstlich Befruchteten" bei den Neugeborenen beträgt in wirtschaftlich entwickelten Ländern bereits bis zu fünf Prozent. "Assistierte Reproduktion" ist also längst keine medizinische Nische mehr. Und die "In Vitro Fertilisation" schafft auch fruchtbaren Boden zur Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen des Biotechzeitalters.
Wie verändern diese neuen "Technologien der Fortpflanzung" unsere Beziehung zu Körper, Geschlecht, Familie und Verwandtschaft? Wie beeinflussen die IVF-Prozeduren mit all ihren emotionalen Höhen und Tiefen das Verhältnis zu Biologie und Technologie?
Auch in Österreich ist angeblich jedes siebte Paar temporär oder langfristig von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen. Wenn der Wunsch nach einem Baby unerfüllt bleibt, kann das z.B. an verschlossenen Eileitern, hormonellen Störungen, Endometriose oder verminderter Spermienqualität liegen. Ein Drittel der Kinderwunschpaare muss sich mit der Diagnose "ungeklärte Infertilität" abfinden. Eine schmerzhafte Erfahrung, die für Frauen und Männer schwer zu verkraften ist. Das scheinbar Einfachste der Welt - die Fortpflanzung - ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch voller Rätsel. So nimmt ab 35 die Fruchtbarkeitsrate bei Frauen rapide ab. Mit Anfang 40 sinkt die Chance einer Schwangerschaft auf acht bis zehn Prozent im Jahr - mit und ohne Reproduktionsmedizin. Während die Samenspende in Österreich legal ist, müssen Paare für die Eizelle einer jüngeren Spenderin ins benachbarte Ausland fahren. Die Chancen steigen dann aber auf 60 bis 70 Prozent.
Diese "Befreiung aus den Zwängen der Natur" hat emanzipatorisches Potential. Doch was sind die gesellschaftlichen Folgen, wenn die Sehnsucht, eine Familie zu gründen, zum Big Business wird? Und was passiert, wenn auch die Reproduktionsmedizin keine Wunder zeugen kann?
Service
Eiertanz: Das Kinderwunschbuch
Flora Albarelli. mvg Verlag (2010)
Die Unfruchtbarkeitsfalle: Wie es dazu kommen kann, dass man den Zug verpasst
Wilfried Feichtinger, Eva Stanzl. Verlag: Orac (August 2009)
Biological Relatives: Ivf, Stem Cells, And The Future Of Kinship
Sarah Franklin. Verlag: Duke University Press (2013)
Making Parents: The Ontological Choreography of Reproductive Technologies
Charis Thompson. Verlag: The MIT Press (2007)
Ein Kind - warum nicht auch für uns?: Gut beraten bei unerfülltem Kinderwunsch Broschiert
Elke Eyckmanns, Markus Merzenich, Frank Nawroth. Verlag: Carl-Auer (2013)
Unerfüllter Kinderwunsch: Das Wechselspiel von Körper und Seele
Jutta Fiegl, mvg Verlag, 2012
Kinder machen: Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. Samenspender Leihmütter Künstliche Befruchtung
Andreas Bernhard, Verlag S. Fischer, 2014
Download der Studie:Familienentwicklung in Österreich (2009 - 2013) Partnerschaft, Kinderwunsch, Kinderbetreuung und ökonomische Situation
Selbsthilfegruppe WUKI-KIWU / Wunschkind - Kinderwunsch
FAMOS, Familien Andersrum Österreich