Gedanken für den Tag

von Guido Tartarotti, Theaterkritiker, Kolumnist bei der Tageszeitung "Kurier" und Kabarettist. "Gottes kleiner Bruder" - Zum 450. Geburtstag von William Shakespeare. Gestaltung: Alexandra Mantler

Stellen wir uns das einmal vor: Hunderttausende Österreicher stauben in einem kollektiven Akt der Brutpflege ihre Bücher ab; junge Männer gehen immer mit Buch zur Disco - wer das dickste hat, verfügt über die besten Chancen bei den Mädchen; die ganze Familie freut sich, wenn ein Zweitbuch angeschafft wird; fragt man einen Österreicher, wo er stehe, antwortet er nicht "Ich steh zwei Gassen weiter", sondern "Ich steh' ganz vorn im Regal". Stellen wir uns das doch einmal vor: Nur einen Tag lang wäre das Buch genauso wichtig wie das Auto. Zum Beispiel heute, am Welttag des Buches.

Der Tag des Buches ist jedes Jahr am Todestag von William Shakespeare. Er hat als Autor eine Sonderstellung. Der Schauspieler Nicholas Ofczarek sagte über Shakespeare: "Er erkennt das ganze Menschsein, mit seinen Abgründen." Ofczareks Kollege Gottfried Neuner drückte sich so aus: "Seine Figuren haben soviel Fleisch, dass das in 400 Jahren nicht abfallen kann." Matthias Hartmann, Ex-Direktor des Burgtheaters, beschrieb Shakespeares Magie so: "Für unser ganzes Denken ist sein Werk so grundlegend wie die vier Evangelisten und die Relativitätstheorie."

Warum ist das so? Erstens: Shakespeare hat, wie alle großen Künstler, brillant abgeschrieben, und zwar überall. Deshalb funktioniert Shakespeare auch als Museum für Gedanken, Mythen, Erinnerungen. Zweitens: Shakespeare war Theaterleiter UND Schauspieler. Deshalb schrieb er so fesselnde Geschichten und Figuren, er konnte es sich nicht erlauben, zu langweilen. Drittens: Er hat instinktiv erfasst, wie der Mensch ist. Der Schauspieler Gert Voss fand dafür präzise Worte: "Der Mensch ist wie ein Vulkan, in dessen Inneren Dinge schlummern, von denen man kaum eine Ahnung hat. Ich kenne keinen anderen Autor, der so radikal Auskunft gibt über den Menschen." Und deshalb darf man Shakespeare auch Gottes kleinen Bruder nennen, ohne Shakespeares großen Bruder damit zu beleidigen.

Service

Guido Tartarotti

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: John Dowland/1563 - 1626
Gesamttitel: Musicke for the Lute
Titel: The Right Honourable the Lady Cliftons Spirit
Solist/Solistin: Paul O'Dette /Laute
Länge: 02:00 min
Label: Astree Auvidis E 7715

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