Gedanken für den Tag

von Johanna Schwanberg, Leiterin des Wiener Dommuseums. "Verletzbarer Meister des Plakativen" - Zum 150. Geburtstag von Henri de Toulouse Lautrec. Gestaltung: Alexandra Mantler

Als Mädchen wollte ich Zirkusartistin werden. Heute kann ich nicht mehr nachvollziehen, was mich an diesem imaginierten Leben mit Clowns, Pferden und Akrobaten so gefesselt hat. Aber ich habe darüber nachgedacht, als meine Tochter vor ein paar Jahren kurzfristig denselben Berufswunsch äußerte. Offenbar bildet die Zirkuswelt einen erträumten Gegenpol zu einer Realität, in der sitzende Tätigkeiten und Wissensanhäufungen den Alltag bestimmen, während der Raum für Körpererfahrungen und Fantasievolles immer kleiner wird.

Als ich letztens durch die Toulouse-Lautrec-Ausstellung im Kunstforum Wien spazierte, hat mich dieser Zirkus-Zauber wieder eingeholt. Denn der französische Belle-Époque-Star, bekannt als der Chronist von Halb- und Unterwelten, hat den Zirkus genauso geliebt wie das Theater und Varieté. In den letzten Jahren vor seinem Tod hat er an die 40 Blätter zum Thema Zirkus geschaffen.

Darunter eine besonders faszinierende Kreidezeichnung aus dem Getty Museum in Los Angeles, entstanden im Jahr 1899. Das Besondere an diesem Blatt: Es zeigt nicht das eigentliche Geschehen, sondern den "Einzug in die Manege". Zu sehen ist eine Artistin von hinten; sie trägt ein ausladendes hellblaues Tutu und folgt einem Pferd, das eigenständig in die Manege trabt. Skizzenhaft erkennt man den Rand des Zirkuszeltes und einige wenige, männliche Zuschauer in den Rängen.

Die Zeichnung geht unter die Haut, weil sie diesen kurzen aufregenden Moment vor einem Auftritt einfängt. Ein Gefühl, das mich jedes Mal überkommt, wenn ich öffentlich sprechen muss, egal wie viel Routine ich mittlerweile habe.

Sie berührt aber besonders, wenn man den Entstehungskontext hinzuzieht. Toulouse-Lautrec zeichnete diese Zirkusbilder in der Nervenheilanstalt, in die er nach einem kompletten Zusammenbruch in Folge seines Alkoholkonsums eingeliefert wurde. Die künstlerische Arbeit war Ausdruck einer zumindest kurzzeitigen Besserung. Als der Maler nach dreimonatigem Aufenthalt entlassen wurde, meinte er in Briefen lapidar: "Ich habe mich mit meinen Zeichnungen freigekauft."

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Fiorenzo Carpi
Gesamttitel: LE AVVENTURE DI PINOCCHIO - Original Soundtrack
Titel: Geppetto: In Allegria
Länge: 02:00 min
Label: CAM'S Soundtrack Encyclopedia

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