Gedanken für den Tag

von Andrea Eckert, Schauspielerin. "Wo ist mein Anteil, Herr, am Licht?". Gestaltung: Alexandra Mantler

Hans Christian Andersen kam aus ärmsten Verhältnissen. Die folgende Geschichte ist nicht lieblich und nicht sentimental. Andersen war keines von beiden und das ist wahrscheinlich das Geheimnis seines ungeheuren Erfolges. Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen sitzt heute, verwandelt als alter Mann, vor dem Geschäft bei mir um die Ecke. Und damit kehre ich zu unserem Ausgangspunkt, zu Christine Lavants Frage zurück: "Wo ist mein Anteil, Herr, am Licht?"

"Es war schrecklich kalt. Es schneite. In dieser Kälte und in dieser Dunkelheit ging ein armes, kleines Mädchen barhäuptig und mit bloßen Füßen auf der Straße. In einer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzchen. Den ganzen langen Tag hatte ihr niemand etwas abgekauft. In einem Winkel zwischen zwei Häusern setzte sie sich hin und kauerte sich ganz zusammen. Die kleinen Beine hatte sie unter sich in die Höhe gezogen, aber es fror sie nur noch mehr. Ach, ein kleines Streichhölzchen würde gut tun. Ratsch! Wie es sprühte! Wie es brannte! Es war ein wunderliches Licht. Dem kleinen Mädchen war es, als säße es vor einem großen, eisernen Ofen. Das Feuer brannte so herrlich und wärmte so gut. Da erlosch die Flamme, der Ofen verschwand. Sie saß mit einem kleinen Überrest des abgebrannten Schwefelholzes in der Hand da.

Sie zündete ein neues Streichholz an. Da saß sie unter dem schönsten Christbaum. Tausende Lichter brannten an den grünen Zweigen. Die Kleine streckte beide Hände aus, da erlosch das Streichholz. Die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und höher. Sie sah, dass sie jetzt die hellen Sterne am Himmel waren. Ein Stern fiel nieder. Jetzt stirbt jemand, sagte das kleine Mädchen. Denn die alte Großmutter, die einzige, die gut gegen sie gewesen, die jetzt aber gestorben war, hatte ihr erzählt: Wenn ein Stern vom Himmel fällt, fliegt eine Seele zu Gott empor.

Sie strich nochmals ein Hölzchen an der Wand an. Es leuchtete rings umher und in dem Glanze stand die Großmutter, klar und schimmernd, mild und liebevoll. Großmutter, rief die Kleine, ach nimm mich mit. Ich weiß, Du bist wieder weg, sobald das Streichholz erlischt. Weg, wie der warme Ofen und der große, schöne Weihnachtsbaum. Und schnell strich sie den ganzen Rest Streichhölzer an, die noch im Bund waren, dass es heller war als am hellen Tag. Und die Großmutter nahm das kleine Mädchen auf ihre Arme und sie flogen in Glanz und Freude so hoch und da oben war weder Kälte, noch Hunger oder Angst, denn sie waren bei Gott."

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Franz Schubert/1797 - 1828
Album: MUSIK ZUM FILM "NOTTURNO"
Titel: Adagio in Es-Dur op.posth.148, DV 897 für Klavier, Violine und Violoncello "Notturno
Anderssprachiger Titel: Trio in Es-Dur für Klavier, Violine und Violoncello op.posth.148, DV 897 "Notturno"
Ausführende: Trio Fontenay
Ausführender/Ausführende: Wolf Harden /Klavier
Ausführender/Ausführende: Michael Mücke /Violine
Ausführender/Ausführende: Niklas Schmidt /Violoncello
Länge: 01:50 min
Label: EMI 7630112

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