Zwischenruf

von Christine Hubka (Wien)

"Lob des Innehaltens"

Im Supermarkt, wo ich gewöhnlich einkaufe, gibt es ein Regal, wo übriggebliebene Kleidungsstücke verbilligt zu haben sind. Über dem Regal hängt ein Schild mit einem riesigen Prozent-Zeichen und der Aufschrift: Schnell zugreifen.

Schnell zugreifen, denn es handelt sich um Einzelstücke. Schnell zugreifen, denn vielleicht biegt jetzt gerade jemand ums Eck, der das gute preiswerte verbilligte Stück in passender Größe mir vor der Nase wegschnappt. Nicht lange überlegen, ob ich die Hose, Jacke, Socken wirklich brauche. Denn Überlegen kostet Zeit. Wer überlegt, dem schnappt ein anderer das beste Stück weg.

Nicht lange überlegen, das könnte dir als Schwäche ausgelegt werden. Nicht lange innehalten, wenn es gilt, auf eine schwierige Situation zu reagieren, das könnte dir als Unentschlossenheit angekreidet werden. Wer schnell handelt, zeigt Führungsqualität. Wer vorher lange überlegt, ist schwach. Diese gängige Meinung scheint mir der Grund zu sein, warum Dinge passieren, über die ich mich nur wundern kann.

Da bietet sich ein minderjähriges Mädchen als Jihadistenbraut an - und wird flugs aus der Schule geworfen. Nach dem Terroranschlag in Paris gibt es Ankündigungen, die Polizei derart aufzurüsten, dass sie militärische Qualität bekommt. Ein Verdächtiger, ganz gleich, was man ihm vorwirft, wird blitzartig zum Schuldigen erklärt.

Ich erinnere mich noch an die Geschichte, wo ein tschetschenischer Mann angeblich den Mord an seinem Widersacher so minutiös geplant habe, dass er bereits sein Grab ausgehoben hat. Das Bild vom Erdloch mit dem entsprechenden Untertitel konnten tausende Zeitungsleser eines Morgens mit wohligem Gruseln betrachten. Inzwischen ist der Mann freigesprochen. Er hatte keinen Mord geplant. Ein Loch graben ist nicht strafbar. Im Bewusstsein derer, die sich an diese Geschichte erinnern, bleibt er für immer ein potentieller Mörder.

Es gibt Situationen, wo es nötig ist, schnell zu handeln, statt lange nachzudenken und zu debattieren. Wenn es brennt, wenn ein Mensch eine Herzattacke erlitten hat, zählen oft Minuten. In den meisten Fällen wird aber eine Nachdenkpause die Gemüter abkühlen. Besonnene Entscheidungen fallen nicht in der Hitze des Gefechtes. Meine Oma hat immer gesagt: "Zähl bis zehn, bevor du reagierst", wenn ich besonders aufgeregt war und gleich loslegen wollte.

Die Methode meiner Oma zur Deeskalation einer Sitution ist aber nicht die Einzige. Jesus hat eine gewählt, über die sich die Bibelwissenschaftler bis heute den Kopf zerbrechen: In einer Situation, wo es um Leben oder Tod einer Frau gegangen ist, hat er sich gebückt und mit dem Finger Figuren auf die Erde gezeichnet. Dem ist eine heftige Diskussion vorausgegangen, dass die Frau sofort gesteinigt werden müsse. Und auf einmal, als Jesus da am Boden hockte und im Sand spielte, hat keiner mehr etwas gesagt. Das Ganze Hin und Her der aufgeputschten Meinungen ist verstummt.

Dass Jesus selbst auch eine Nachdenkpause gebraucht hat, zeigt mir die pfiffige Antwort, die er am Ende dieser Pause gegeben hat: Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Die Frau ist am Leben geblieben.

Pfiffige Lösungen, kreative Antworten, deeskalierende Maßnahmen erfordern nicht schnelles Handeln sondern Zeit. Es ist egal, ob man sich diese Zeit nimmt, indem man bis zehn zählt, oder sich bückt und mit dem Finger auf der Erde herumzeichnet oder noch etwas ganz Anderes macht.

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