Gedanken für den Tag

von Norbert Mayer, Leitender Redakteur im Feuilleton der Tageszeitung "Die Presse". "Seit heute, aber für immer ..." - Zum 100. Geburtstag von Christine Lavant. Gestaltung: Alexandra Mantler

Ein Amsellied

Ein Amsellied und eine Kirschbaumblüte
und eines Frühlingshimmels stilles Blau
möcht ich noch einmal innig und genau
zutiefst erleben - wenn es deine Güte
nicht anders weiß, und wenn es mir auch frommt.
Doch es kann sein, dass alles anders kommt
und dass der nächste Föhn mein Grab umweht.
Die Vögel werden zärtlich weitersingen
und tausend Zweige neue Blüten bringen
und Einer spricht für mich dann ein Gebet?

Christine Lavants erster eigenständiger Lyrikband "Die unvollendete Liebe" erschien 1949. Die meisten der 65 Gedichte sind wahrscheinlich ab 1945 entstanden. Da war sie 30 Jahre alt. Sie verwendete nicht mehr den Mädchennamen Thonhauser, auch nicht den Namen des um 36 Jahre älteren, so wie sie fast mittellosen, Malers Josef Benedikt Habernig, den sie 1939 geheiratet hatte, sondern bereits ihren Künstlernamen: Lavant heißt sie nun. Welch passender Name für eine magische Dichterin. Vielleicht sind ihr die poetischen Bilder bei Spaziergängen durch die Auen der Lavant entsprungen. Das Wort bedeutet "weißglänzender Fluss", es geht auf Urzeiten zurück, noch vor Eindringen der Kelten im Gebiet des heutigen Kärnten. Lavant lässt die Sprache funkeln.

In den Dreißigerjahren hatte sie vergeblich versucht, einen Verlag für ihren Roman zu finden, hat wieder einen Suizid-Versuch hinter sich, den dritten seit ihrem 15. Lebensjahr, und sich danach in eine Nervenheilanstalt einweisen lassen. Die Schreibwut ihrer Jugend wähnte sie überstanden. Ihre Manuskripte hat sie verbrannt. Doch dann wurde bei ihr die Poesie durch Lektüre von Gedichten Rainer Maria Rilkes wieder erweckt.

Diese sonderbare, zarte Frau mit ihren tiefen Augen bringt in ihren Versen Unruhe in beinahe jeden Satz. Auch das "Amsellied", das so simpel als herrliches Leuchten der Natur beginnt, mit dem stillen Blau des Frühlingshimmels und der Kirschbaumblüte, hört sich wie eine Beschwörung an. Es weht ein unheimlicher Wind. Im Wechsel der Zeiten hat nur der Gesang der Vögel Bestand, aber was erwartet jene, die niemals in das Reich des andern sehen? Die zehn Zeilen enden im Zweifel: "und Einer spricht für mich dann ein Gebet?" So endet diese Klage gänzlich unbestimmt.

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Robert Schumann/1810 - 1856
Titel: 3 Fantasiestücke für Klavier und Klarinette op.73
* Zart und mit Ausdruck (00:03:47)
Solist/Solistin: Ricardo Requejo /Klavier
Solist/Solistin: Thomas Friedli /Klarinette
Länge: 02:00 min
Label: Claves 508201

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