Zwischenruf

von Landessuperintendent Thomas Hennefeld (Wien)

An die Nachrichten über gesunkene Boote und ertrunkene Menschen im Mittelmeer haben wir uns in Europa schon fast gewöhnt. Erst vor zwei Tagen sind wieder über 200 Leichen vor der libyschen Küste geborgen worden.

Mit dem entsetzlichen Fund von 71 Toten auf der Ostautobahn bei Parndorf, Männer, Frauen und auch vier Kinder, die nach wochenlangen Strapazen in einem Kühllaster vermutlich erstickten, hat sich das Grauen quasi vor unserer Haustüre im Herzen Europas ereignet. Europaweit machte dieser grausame Fund Schlagzeilen.

Vor 25 Jahren wurde der britische Fernsehfilm "Der Marsch" produziert, der auch in Österreich zu sehen war. Im Mittelpunkt des Films steht der Nordafrikaner Isa El-Mahdi, der einen Marsch von Nordafrika nach Europa organisiert. Er will damit aufzeigen, dass der Klimawandel, der auch von Europa mit seiner exzessiven Konsumgesellschaft mit zu verantworten ist, den Menschen in Teilen Afrikas die Lebensgrundlage entzieht. Er hofft auf das Mitgefühl der Europäer:

"Wir glauben, wenn ihr uns vor euch seht, werdet ihr uns nicht sterben lassen. Deswegen kommen wir nach Europa. Wenn ihr uns nicht helft, dann können wir nichts mehr tun, wir werden sterben, und ihr werdet zusehen, wie wir sterben und möge Gott uns allen gnädig sein."

In der Schlussszene des Films sind Menschen zu sehen, die in kleinen Booten auf die spanische Küste zusteuern. Ihnen gegenüber macht sich eine Phalanx schwer bewaffneter Soldaten bereit, die Flüchtlinge in Empfang zu nehmen. Der Weg ins Gelobte Land Europa bleibt den Flüchtlingen versperrt. Der Film endet mit einer emotionalen Ansprache der Europäischen Kommissarin für Entwicklung, in der sie sich auch an El-Mahdi wendet:

"Wir brauchen euch, wie ihr uns braucht. Wir können nicht weitermachen, wie bisher. Ihr könnt uns helfen, die Zerstörung aufzuhalten, die wir anrichten. Aber wir sind noch nicht bereit für euch, ihr müsst uns noch mehr Zeit geben."

Das Drama bei Parndorf führt uns schmerzhaft vor Augen, dass wir keine Zeit mehr haben, wenn wir weitere Tragödien dieser Art vermeiden wollen. Die Welt hat sich in den letzten 25 Jahren verändert. Die Flüchtlinge strömen nun auch nach Europa. Die Fluchtgründe sind vielfältig: Bürgerkriege, Verfolgung durch extremistische Gruppen, Vertreibungen. Die noch größeren Flüchtlingsströme aufgrund des Klimawandels stehen noch bevor. Die Flüchtlinge kommen auf den Wegen, auf denen es möglich ist. Das geht derzeit fast ausschließlich mit Fluchthelfern, die aus humanitären Gründen handeln oder, in den meisten Fällen durch skrupellose Schlepperbanden, die ein großes Geschäft machen. Die Flüchtlinge werden sich nicht abhalten lassen, zu uns zu kommen, auch nicht von Grenzbeamten, Zäunen und Mauern.

Die Betroffenheit und die Erschütterung über dieses schreckliche Drama bei Parndorf sind groß. Es ist zu hoffen, dass es nicht beim Betroffenheitsgestus bleibt sondern dass diese Tragödie vor unseren Augen ein Weckruf ist, sich endlich nicht im politischen Hickhack über die Verteilung von Flüchtlingen zu verlieren sondern die Verantwortung für Menschen, die alles zurückgelassen haben und unter Lebensgefahr nun in unser Land gekommen sind, wahrzunehmen. Schuld an der Misere ist auch die zögerliche Politik der Europäischen Union mit dem Schielen auf die eigenen Wählerinnen und Wähler.

Wie ein roter Faden zieht sich durch die Bibel, durch Altes und Neues Testament, die Aufforderung, den Witwen, Waisen und Fremdlingen Schutz zu gewähren. Als Christ kann ich daher nicht zuerst die Frage stellen, ob wir den Strom an Flüchtlingen bewältigen, ob das zumutbar ist, so viele Menschen aufzunehmen sondern zuerst muss ich fragen: Was kann ich tun, welche Wege können wir gemeinsam finden, damit sich der Gestank des Todes nicht auch bei uns ausbreitet.

Möge El-Mahdi Recht behalten, und es nicht nur ein frommer Wunsch sein, dass hier auch wirklich ein Mitgefühl entsteht. Wenn die so oft und viel beschworene Wertegemeinschaft Europas nicht in der Lage ist, solidarisch und vernünftig diese Herausforderung anzunehmen, dann hat sie wohl wirklich versagt. Wenn die Toten bei Parndorf ein Weckruf sind, endlich Flüchtlinge als Menschen zu sehen, die dringend unsere Hilfe benötigen, und wenn die Politik und Zivilgesellschaft den Menschen hilft, ein menschenwürdiges Leben aufzubauen, wo auch immer, dann könnte das so müde und selbstzufriedene Europa mit einem neuen Geist erfüllt werden.

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