Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Schattenland, Ströme" - Zum 50. Todestag des Schriftstellers Johannes Bobrowski. Gestaltung: Alexandra Mantler

Das Aufrufen litauischer und osteuropäischer Landschaften in gleichzeitig archaischen und modern fragmentierten Bildern - das beeindruckt mich immer wieder, wenn ich Gedichte, Erzählungen oder Romane von Johannes Bobrowski lese. Und am meisten fasziniert mich, dass es keine menschenleeren und geschichtslosen Landschaften sind. Eines der berühmtesten Gedichte von Bobrowski heißt "Pruzzische Elegie" und beginnt mit den Zeilen "Dir / ein Lied zu singen / hell von zorniger Liebe -". Das Du, das hier angesprochen wird, ist nicht ein Individuum, sondern das vom Deutschen Orden durch seine Eroberungen und teilweise planmäßigen Massenmorde ausgelöschte Volk der Pruzzen, der alten Preußen. Bobrowskis Gedicht nennt diesen "nie besungenen Untergang", mit dem er schon in Kindestagen konfrontiert war, und sagt am Ende, was geblieben ist von diesem untergegangenen Volk:

Namen
Reden von dir,
zertretenes Volk, Berghänge,
Flüsse, glanzlos noch oft,
Steine und Wege -
Lieder abends und Sagen,
das Rauschen der Eidechsen nennt dich
und, wie Wasser im Moor,
heut ein Gesang, vor Klage
arm -
arm wie des Fischers Netzzug,
jenes weißhaarigen, ew`gen
am Haff, wenn die Sonne
herabkommt.

Bobrowskis Bücher erschienen in den 1960er Jahren zugleich in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland. In der Westausgabe des Gedichtbandes "Sarmatische Zeit" fehlte allerdings die "Pruzzische Elegie" - der spektakulärste Fall, dass ein DDR-Schriftsteller im Westen zensuriert wurde. Diesem Stück mittelalterlicher Geschichte wollte man sich offenbar nicht stellen - für Bobrowski war sie ein Markstein der Schuld seines Volkes gerade in dem Raum, von dem er Zeit seines Lebens geprägt war. Und er hatte ja auch die Glorifizierung des Deutschen Ordens durch die Nationalsozialisten kennengelernt und selbst als Soldat am Russlandfeldzug teilgenommen.

Es zieht mich immer wieder in seinen Bann, was Johannes Bobrowski aus biografischen und historischen Erfahrungen in seinen Gedichten wie in seiner Prosa gemacht hat; und wie er, der der Literaturdoktrin der DDR keinen Tribut zollte, auch noch Zensurmechanismen und Denkschablonen des damaligen Westens sichtbar werden ließ.

Service

Buch, Johannes Bobrowski, "Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater", Roman, Verlag Klaus Wagenbach
Buch, Johannes Bobrowski, "Die Erzählungen, Vermischte Prosa und Selbstzeugnisse", Deutsche Verlagsanstalt
Buch, Johannes Bobrowski, "Litauische Claviere", Roman, Reclam Verlag 2009
Buch, Christoph Meckel, "Erinnerung an Johannes Bobrowski", Carl Hanser Verlag

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Johann Sebastian Bach/1685-1750
Album: CRISTOFORIS CLAVICHORD - JOHANNES MARIA BOGNER
* Courante - 3.Satz (00:04:59)
Titel: Partita Nr.6 in e-moll BWV 830, auf dem Clavichord gespielt
Solist/Solistin: Johannes Maria Bogner /Clavichord
Länge: 02:00 min
Label: ORF Radio Österreich 1 Editi

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