Radiokolleg - Höher, besser, schneller, mehr

Die Maßlosigkeit als tickende Zeitbombe (3). Gestaltung: Sabine Nikolay

Der Neoliberalismus stachelt uns zu immer mehr Leistung und Selbstdisziplin an. Wir arbeiten Tag und Nacht, wochentags und feiertags, im Urlaub und auf Reisen. Dank Laptop, Tablet und Smartphone können wir immer überall gleichzeitig sein. Wir berichten der ganzen Welt über unser Tun und Lassen, stellen Fotos ins Netz und optimieren unsere digitale Erscheinung. Die Arbeitswelt reicht längst in die persönlichen Bereiche hinein - bis hin zum eigenen Körper. Durch hartes Training optimieren wir unsere Figur und steigern damit unseren Wert auf dem Arbeits- und Partnerschaftsmarkt. Was wir mit persönlichem Einsatz nicht schaffen, kompensieren wir mittels irrationalen Konsumgütern: wir verschweißen alten Kaffee in Aluminiumkapseln und verkaufen ihn als Lifestyle-Kaffee. Die dazugehörigen Automaten stehen mittlerweile in praktisch allen Designer-Hotel-Zimmern und schicken Büros in Glastürmen in aller Welt. Wir trinken künstliche Getränke aus Alu-Dosen die angeblich Flügel verleihen, abends mischen wir sie mit Wodka, damit wir beim Clubbing lange durchhalten. Drohen wir müde zu werden, helfen kleine bunte Pillen mit einem chemischen Kick nach. Sie helfen auch beim Erarbeiten des Stoffs von Zulassungsprüfungen auf die Eliteuniversitäten der Welt - oder auch nur beim Büffeln für den Medizinaufnahmetest an der Universität Wien.

Und: obwohl wir längst wissen, dass Autoabgase der Umwelt schaden, entwickeln wir "Sports Utility Vehicles", die größer sind als alle Autos zuvor und deren Schadstoffausstoß nicht weniger sondern mehr geworden ist.

Selbst in der Askese sind wir noch maßlos: Anstatt einfach weniger zu essen, weniger Auto zu fahren und weniger Konsumgüter zu kaufen, üben wir Verzicht in Klosterretreats, Wellness-Urlauben an exotischen Destinationen, betreiben Fastenkuren in Fünfsternhotels und wandern statt im Wienerwald mit eigenem Koch und Lastenträgern im Himalaya oder durch die Wüste.
Was bringt den Menschen dazu, sich selbst und seine Umwelt bis zur Grenze der Belastbarkeit zu beanspruchen? Wie ist dieses Verhalten zu erklären? Warum gehen die Menschen seit Jahrtausenden immer wieder in die gleiche Falle? Denn auch die antiken Hochkulturen litten vor ihrem Untergang an der damals sogenannten "Dekadenz": Maßlosigkeit, Selbstüberschätzung und gnadenlosem Narzissmus.

Service

Link:

Österreichischer Sachstandsbericht Klimawandel 2014


Literatur:

Heinrich Böll, Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral

Richard Dawkins, Das egoistische Gen, Spektrum Verlag 2007

Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, dva 1976

Erich Fromm, die Kunst des Liebens

Hans Holzinger, Neuer Wohlstand, Leben und wirtschaften auf einem begrenzten Planeten, JZB 2012

Andrea Komlosy, Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert, Promedia 2014

Burkhart Liebsch, Michael Staudigl, Zum Gewaltpotential unbedingter Ansprüche im Kontext politischer Theorie, Nomos 2014

Frank Schirrmacher, Minimum, Blessing Verlag 2006

Tomás Sedlácek, Die Ökonomie von Gut und Böse, Hanser Verlag 2012

Richard Sennett, Der flexible Mensch, Berliner Taschenbuchverlag 2007

Joseph Stiglitz, Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht, Siedler Verlag 2012

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