Radiokolleg - Die Sozialdemokratie und ihre Widersprüche

Bestandsaufnahme einer politischen Bewegung (2). Gestaltung: Ulla Ebner

"In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute, wir sind die stärkste der Partei'n. Die Müßiggänger schiebt beiseite! Diese Welt wird unser sein", singen die Sozialdemokraten in der "Internationalen". Lange Zeit präsentierten sich die sozialdemokratischen Parteien als politische Heimat für die Arbeiterklasse, die Ausgebeuteten, die sozial Schwachen. Die Sozialdemokratie bemühte sich, die Arbeiter/innen in Gewerkschaften zu organisieren, erkämpfte viele Arbeits- und Sozialrechte und verschaffte der Arbeiterklasse Zugang zu Bildung. Doch heute, im 21. Jahrhundert, entspricht das mit der "stärksten Partei" immer weniger der Realität. In vielen Ländern Europas verlieren die sozialdemokratischen Parteien Stammklientel an rechtsnationale Parteien. Die Sozialdemokratie habe ihre Wurzeln vergessen, sie würde zunehmend ihre Ideale verraten, sagen Kritiker/innen. Mit diesem Vorwurf sieht sich die Bewegung nicht zum ersten Mal konfrontiert. Bereits 1918, als die deutsche Sozialdemokratische Partei den Eintritt Deutschlands in den Ersten Weltkrieg billigt, wird ihr Verrat am Internationalismus vorgehalten: Es gehe nicht an, dass sich Arbeiter mit dem Klassenfeind des eigenen Landes verbünden, um gegen Arbeiter aus anderen Ländern zu kämpfen, so die Kritiker aus dem linken Flügel. Die Solidarität mit Arbeiter/innen aus anderen Ländern ist auch viele Jahrzehnte später ein umstrittenes Thema innerhalb der Arbeiterbewegung. Gerade Teile der Gewerkschaften verhalten sich lange Zeit sehr zurückhaltend, wenn es um Arbeitserlaubnis für Asylwerber/innen geht. Im Laufe der Geschichte passt sich die Sozialdemokratie immer wieder an die veränderten Rahmenbedingungen an: Marx wird durch Keynes ersetzt und dieser wiederum durch einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Die sozialdemokratische Umverteilungspolitik und Bildungsoffensive der 1970er Jahre ermöglicht vielen Angehörigen der ehemaligen Arbeiterklasse den sozialen Aufstieg - und entfremdet diese von der "Arbeiterbewegung". Hat sich die Sozialdemokratie durch ihre Erfolge selbst in eine politische Krise gebracht? In den 1990er Jahren führt der britische Premier Tony Blair seine Labour Party in die politische Mitte. Die "New Labour" glaubt an den freien Markt. Ihre Zielgruppe ist nicht mehr die Arbeiterklasse, sondern die Mittelschicht. Viele sozialdemokratische Parteichefs in Europa folgten dem Beispiel. Margaret Thatchers Credo "There is no Alternative" (zum Neoliberalismus) scheint Realität geworden zu sein. Globalisierung und europäische Integration beschränken den Gestaltungsspielraum nationaler Regierungen. Seite an Seite mit den Konservativen stimmen Sozialdemokraten in Europa für Austeritätspolitik und Freihandelsabkommen. Wofür steht die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert? Hat sie vergessen, wofür sie einst gekämpft hat? Oder hat sie lediglich ihre Methoden verändert, um ihr altes Ziel - soziale Gerechtigkeit - in einer globalisierten Welt zu schaffen?

Service

Literatur:

Tony Blair, "Mein Weg", C. Bertelsmann

Florence Faucher-King and Partrick Le Galès, "The New Labour Experiment. Change and Reform Under Blair and Brown", Stanford University Press

Andrew Harrop, Ed Wallis (Hgs.), "Future Left. Can the left respond to a changing society?", FEBS

Axel Honneth, "Die Idee des Sozialismus: Versuch einer Aktualisierung", Suhrkamp Verlag

Margaretha Kopeinig, Wolfgang Petritsch, "Das Kreisky-Prinzip. Im Mittelpunkt der Mensch", Czernin Verlag

Paul Mason, "Postkapitalismus: Grundrisse einer kommenden Ökonomie", Suhrkamp Verlag

Wolfgang Merkel, Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim, Alexander Petring, "Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie. Herausforderungen und Bilanz der Regierungspolitik in Westeuropa", VS Verlag für Sozialwissenschaften

Robert Misik, "Kaputtalismus: Wird der Kapitalismus sterben? Und wenn ja, würde uns das glücklich machen?", Aufbau Verlag

Oliver Rathkolb, "Bruno Kreisky. Erinnerungen: Das Vermächtnis des Jahrhundertpolitikers", Styria

Franz Walter, "Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie", Suhrkamp Verlag

Helmut Weihsmann, "Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919-1934", Promedia

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