Gedanken für den Tag

23. August 2016, 06:56

Wenn ich an meine interessantesten Schulstunden denke, fällt mir immer wieder ein, wie wir im Griechischunterricht Platons Apologie des Sokrates gelesen haben. Unser Griechischlehrer Anton Maislinger, ein gerechter aber strenger Mann, dem selten ein Lächeln entkam, machte sparsame Kommentare zu dieser Verteidigungsrede eines Mannes, der dem Tod unerschrocken in die Augen sah. Und vielleicht hat gerade auch das die Wirkung dieses Textes ausgemacht: Während biblische und christliche Texte in der katholischen Schule allgegenwärtig waren und durch Predigten mehr entwertet als erklärt wurden, steht mir die Berufung des Sokrates auf sein daimonion, seine innere Stimme, bis heute in ihrer schroffen Selbstverständlichkeit vor Augen. Vor allem aber hat Anton Maislinger selbst ein Beispiel gegeben, wie man unerschrocken und ohne große Worte mit dem Tod umgeht.

Als wir in der siebten Klasse waren, kam der Vater eines Mitschülers durch einen schrecklichen Arbeitsunfall zu Tode. Wie hilflos waren unsere Lehrer, als der Mitschüler nach dem Begräbnis wieder in der Klasse war: Die einen taten so, als wäre nichts gewesen, die anderen bemühten christliche Phrasen als Trost. Anton Maislinger betrat die Klasse, stellte seine Tasche bei der Türe ab, anstatt wie üblich zum Katheder zu gehen, ging auf den Klassenkollegen zu und drückte ihm lange und wortlos die Hand. Noch bei unserem dreißigjährigen Maturajubiläum haben wir uns daran erinnert.

Am Ende dieses Schuljahres erlitt Anton Maislinger einen Herzinfarkt. Einige Tage danach besuchte ich ihn auf der Intensivstation. Drei Minuten wurden mir zugestanden, und ich musste ganz allein kommen. Ich war als Siebzehnjähriger überfordert mit dieser Situation, ich zitterte vor Angst, aber ich musste unseren Griechischlehrer besuchen, schließlich war ich der gewählte Schulsprecher. Noch bevor ich ihm unsere guten Wünsche ausdrücken konnte, sagte er mir im Krankenbett: "Eure Noten habe ich schon eingetragen, und im Zweifelsfall die bessere - ihr sollt ja keinen Nachteil haben, wenn ich sterbe." Ich habe darauf nicht viel Gescheites zu stammeln vermocht, aber wie Anton Maislinger dem Tod ins Angesicht gesehen und wie er zuvor von Sokrates gesprochen hat, ist mir nie aus dem Sinn gegangen.

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Sendereihe

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Gestaltung

• Alexandra Mantler