Radiokolleg - Vielbeschworene Solidarität

Die Einheit in der Vielheit finden (2).
Gestaltung: Juliane Nagiller

Es brauche mehr Solidarität mit Griechenland, gegenüber Flüchtlingen und unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ist "Solidarität" zu einer leeren Worthülse verkommen, die öfter die Titelseiten der Zeitungen ziert, als in gelebter Form ein Grundpfeiler demokratischer Systeme zu sein?

Als moderner Begriff entstammt die Idee der Solidarität der Französischen Revolution. Damals war es nicht die solidarité, sondern die fraternité die neben liberté und egalité zur Parole der Revolution wurde. Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts löst die Solidarität die Brüderlichkeit ab. Sie wird zum zentralen Begriff der Arbeiterbewegung. Steht sinnbildlich für die soziale Emanzipation des Proletariats. Die Arbeitersolidarität ist Solidarität unter Gleichen. Doch die Forderung nach Zusammengehörigkeit scheint zu erodieren, zu vielfältig und transnational ist die Schicht der Arbeiter/innen heute.

Die Forderung der Arbeiterbewegung nach staatlicher Unterstützung im Falle von Not wurde im Wohlfahrtsstaat aufgegriffen. Die Bürger/innen eines Staates bilden eine Solidargemeinschaft und haben ihren Mitbürger/innen gegenüber eine bestimmte Verpflichtung zur Hilfe, so die dahinterliegende Idee. Die gesetzliche Sozialversicherung in Österreich beruht auf diesem Prinzip der sozialstaatlichen Solidarität. Solidarität bezeichnet hier den Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken, zwischen Jungen und Alten, zwischen besser und schlechter Verdienenden, zwischen Erwerbstätigen und Pensionist/innen.

Solidarität wird zum roten Faden in der Geschichte der Europäischen Union. Bereits in der Präambel zum Maastrichter Vertrag findet man den Begriff der "Solidarität": Man verfolge mit der Gründung der EU den Wunsch, die Solidarität zwischen den Völkern zu stärken. Die Solidaritätsklausel verpflichtet die Mitgliedsstaaten sogar zur gegenseitigen Hilfeleistung bei Naturkatastrophen und terroristischen Angriffen. Doch was passiert, wenn in einem Mitgliedsstaat die Staatspleite droht? Wer ist verantwortlich für die Flüchtlinge, die nach Europa kommen? Und wann sind die Grenzen der Solidarität erreicht? Darüber herrscht Uneinigkeit auf höchster europäischer Ebene.

Die Solidarität steckt in der Krise, wird oft konstatiert. Doch vielleicht befindet sich die Solidarität nur in einem Wandlungsprozess, wird durch neue Formen der Solidarität abgelöst. Ereignishaft blitzen diese auf, wenn es gilt, Flüchtlinge an Bahnhöfen zu versorgen oder ihnen gar eine Bleibe zur Verfügung zu stellen, wenn Menschen sich im Netz solidarisch organisieren und Lokale ihre Speisen nicht auspreisen, sondern jede und jeder so viel zahlt, wie er oder sie kann.

Ist Solidarität ein Gefühl, eine politische Haltung oder ein Kampfbegriff? Steht sie für Emanzipation oder die Hilfe für Bedürftige? Und wie kann in unserer komplexen, globalisierten Welt ein Zusammengehörigkeitsgefühl über nationale, sprachliche, religiöse und kulturelle Unterschiedlichkeiten hinweg erzeugt werden?

Service

Wolfgang Aschauer, Elisabeth Donat, Julia Hofmann: "Solidaritätsbrüche in Europa. Konzeptuelle Überlegungen und empirische Befunde", Springer Verlag 2016.

Hauke Brunkhorst: "Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft", Suhrkamp 2002.

Jürgen Habermas: "Im Sog der Technokratie", Suhrkamp 2013.

Monika Mokre: "Solidarität als Übersetzung. Überlegungen zum Refugee Protest Camp Vienna", transversal texts, 2015. (online abrufbar)

Saskia Sassen: "Expulsions. Brutality and Complexity in the Global Economy", Harvard University Press 2014.

Saskia Sassen: "Ausgrenzungen. Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft", S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.

Yanis Varoufakis: "And The Weak Suffer What They Must? Europe, Austerity and the Threat to Global Stability", Bodley Head 2016.

Rainer Zoll: "Was ist Solidarität heute?", Suhrkamp 2000.

Paul M. Zulehner: "Entängstigt euch! Die Flüchtlinge und das christliche Abendland", Patmos Verlag 2016.


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