Blätter

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Theologin, Germanistin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche". Gestaltung: Alexandra Mantler

"An einem tönenden Grabmal"

Wo der Abgrund droht, hilft manchmal das Erzählen. Zumindest für die Dauer des Erzählens spürt man Boden unter den Füßen, es bringt Ordnung, etwa in das Chaos der Erinnerungen und Gefühle. Auch Musik kann ein Versuch sein, eine Struktur zu bilden, die leben hilft. "Ich suche Erlösung aus der erbarmungslos weiterrinnenden Zeit, und die Struktur, die mich rettet, führt mir die Endlichkeit vor Augen", das lässt die niederländische Autorin Anna Enquist in ihrem Roman "Kontrapunkt" eine Pianistin erkennen. "Ich werde auf diesem Klavierschemel sitzen bleiben müssen, bis ich umfalle."

Die Pianistin in Anna Enquists Roman hat wie die Autorin selbst ihre Tochter verloren. In den "Goldberg-Variationen" von Johann Sebastian Bach findet die trauernde Mutter Spuren ihres eigenen Abgrunds. Nach dem Tod seines Sohnes Bernhard komponierte Bach jene Musik, "die später den Namen ,Goldberg Variationen' erhalten sollte, zum Zwecke der ,Gemütsergötzung' von Musikliebhabern, wie es auf dem Deckblatt stand. Das war eine Lüge; eigentlicher Zweck der Variationen war, ihren Schöpfer vor dem Wahnsinn zu bewahren", das jedenfalls behauptet Enquists Roman. "Anderthalb Jahre lang schloss sich Bach mit der Musik ein, die zum Vehikel seiner Verzweiflung wurde. Je näher er dem Ende kam, desto stärker drosselte er sein Arbeitstempo. Die Struktur, die er entworfen hatte, zwang ihn zu einem Abschluss, den er nicht wollte. Er behielt seinen Sohn bei sich, wenn er sich in die Variationen vertiefte, er wurde nicht verrückt vor Verzweiflung, solange er komponierte, er arbeitete an einem tönenden Grabmal für den verlorenen Sohn."

Und die trauernde Mutter wird nicht verrückt vor Verzweiflung, solange sie sich an den Goldberg-Variationen abarbeitet. Sie studiert eine Variation nach der anderen ein, in der Musik leben die Erinnerungen auf, leise und laute, langsame und schnelle. Am Ende spielt sie die Aria für ihre tote Tochter. "Jetzt spielt sie, jetzt und allzeit spielt die Frau die Aria für ihre Tochter."

Service

Anna Enquist, "Kontrapunkt", Luchterhand Literaturverlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Johann Sebastian Bach/1685 - 1750
Titel: Goldberg - Variationen BWV 988 "Aria mit 30 Veränderungen"/aus Clavierübung IV
* Aria; Variation 1;Var.2;Var.3 Canone all'Unisono;Var.4;Var.5 (00:11:41)
Solist/Solistin: Andras Schiff /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Decca 4171162

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