Gedanken für den Tag

10. Jänner 2017, 06:56

Im Café der verlorenen Jugend

Wird unser Leben am Ende bedeutungslos gewesen sein - nicht mehr als eine flüchtige Episode in der kosmischen Weltzeit? Und wie steht es um die, mit denen wir zusammen sind? Wird es für sie Zukunft geben?

Der Aufstand gegen die Sterblichkeit ist ein Grundmotiv der Literatur. Dies zeigt sich erneut in Patrick Modianos Roman "Im Café der verlorenen Jugend". In einem Pariser Kaffeehaus treffen sich flüchtige Gestalten, die auf der Suche nach Glück durch die Stadt streifen. Eine Figur namens Bowing unterscheidet sich von den anderen dadurch, dass sie die Namen aller im Café eintreffenden Gäste mit Datum und Uhrzeit in einem Heft verzeichnet. Eine schrullige Angewohnheit, könnte man meinen, aber "im Grunde versucht Bowing nur, all die Schmetterlinge, die für ein paar Augenblicke um eine Lampe schwirren, vor dem Vergessen zu bewahren."

Er träumt von einem riesigen Register, in dem alle Namen der Gäste aller Pariser Cafés der letzten 100 Jahre verzeichnet sind. Der Traum mag verrückt sein, aber er möchte der "Anonymität der Großstädte" etwas entgegensetzen, dem pulsierenden Malstrom der Metropole ein paar "Fixpunkte" abringen. Tatsächlich spielt das Heft mit den Namen viel später, als es das Café schon längst nicht mehr gibt und seine Gäste teilweise verschollen sind, für die Aufklärung eines Kriminalfalles eine wichtige Rolle.

Die Sehnsucht, dass es gelinge, in das flüchtige Material der Geschichte etwas Bleibendes einzuzeichnen, der tiefe Wunsch, dass die Menschen, die wir lieben, nicht vergessen werden, ist ein anthropologisches Grundbedürfnis, das bei Modiano wunderbar eingefangen wird. Bowings Heft, in dem die Namen so akribisch festgehalten werden, erscheint als spätmoderne Kopie des Buchs des Lebens, von dem in der Bibel die Rede ist und in dem unsere Namen, so dürfen wir hoffen, am Ende alle rettend verzeichnet sind.

Service

Patrick Modiano, "Im Café der verlorenen Jugend", Verlag Hanser

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler