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ORF/JOSEPH SCHIMMER

Gedanken für den Tag

von Jan-Heiner Tück, Autor, Theologe und Universitätslehrer. "Ein dunkles Leuchten" - Spuren der Transzendenz in der Gegenwartsliteratur. Gestaltung: Alexandra Mantler

Riss im Kosmos

Wer nicht an Gott glaubt, glaubt nicht an nichts, sondern an alles. Dieses spitze Wort von Chesterton gilt in gewisser Hinsicht auch heute. Religion lebt, auch wenn Gott für tot erklärt wurde, allerdings oft in neuen Spielarten.

Der Schriftsteller Daniel Kehlmann hat in seiner Erzählung "Antwort an die Äbtissin" eine Form von Wohlfühlreligion kritisch aufs Korn genommen. Ein Guru, der salbungsvoll über Ganzheitserfahrungen schreibt, geht abends, nachdem er an seinem neuen Buch "Befrag den Kosmos, er wird sprechen" weitergeschrieben hat, seine Korrespondenz durch.

Unter den Briefen findet sich die Bitte einer Äbtissin um einige Worte über die Theodizee: Warum das Leiden, warum die Einsamkeit, wozu der Schmerz, wenn doch die Welt angeblich so wunderbar und harmonisch ist? Die Frage provoziert Abwehrreflexe. Aber dann wirft der Meister doch noch einmal den Computer an und schreibt: "Gott ist nicht zu rechtfertigen, das Leben entsetzlich, seine Schönheit skrupellos, und ich habe keinen Zweifel daran, dass mein elendes Krepieren Ihm so wenig Mitleid abfordern wird wie das meiner Kinder. Das einzige, was hilft, sind wohlige Lügen."

Diese Sätze kommen der "Auslöschung seines ganzen Lebenswerkes" gleich. Die Wucht der Theodizee lässt den esoterischen Autor die auftrumpfende Dürftigkeit seines Denkens erkennen. Sie deckt auf, dass eine Religiosität, der es ums eigene Wohlbehagen geht, blinde Flecken hat. Die Wahrheit des Lebens kann hart sein, so hart, dass sie auch dem Glauben an einen gütigen und mächtigen Gott zusetzt. Das Kreuz steht im Zentrum des Christentums. Negativität, Leid und Schuld werden hier nicht ausgeblendet, weil Gott selbst sich diesen Wirklichkeiten in der Passion des Gekreuzigten gestellt hat: Der Riss im Kosmos ist damit nicht gekittet, aber die Verlorenheit hat einen Ort. Ob die Äbtissin sich in dieser Antwort hätte finden können?

Service

Daniel Kehlmann, "Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten", Rowohlt Taschenbuch Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Dave Brubeck/geb.1920
Album: QUIET AS THE MOON
Titel: The desert and the parched land/instr.
Solist/Solistin: Dave Brubeck /Piano m.Begl.
Ausführender/Ausführende: Matthew Brubeck /Violoncello
Länge: 02:00 min
Label: Decca 8208452

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