Naschmarkt

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Gedanken für den Tag

von Jan-Heiner Tück, Autor, Theologe und Universitätslehrer. "Ein dunkles Leuchten" - Spuren der Transzendenz in der Gegenwartsliteratur. Gestaltung: Alexandra Mantler

Die zerstörte Kapelle - Peter Handke

Als Sinnbild für die prekäre Stellung der Kirche in der Moderne lässt sich eine Passage in Peter Handkes Roman "Die Wiederholung" lesen.

Dort heißt es: "Die Kapelle stand oben auf einem Felskopf. So unversehrt unten die Landwirtschaftsschule -, so verwüstet das kleine Heiligtum. Es war, als beträte ich das dachlose, unbewohnbare Haus meiner Alpträume. Zerschlagen der Altarstein; die Fresken überschmiert mit den Namen der Gipfelstürmer; am Boden, begraben unter Schutt und Brettern, die Statue des unter das Kreuz gefallenen Christus, daliegend mit abgehauenem Kopf, die Dornenkrone ersetzt durch Stacheldraht, die Eingangsschwelle zerrissen von Baumwurzeln.

Ich blieb nicht allein: ein junger Mann stellte sich neben mich, verschränkte die Arme, und dann hörte ich ihn nur noch tief atmen; und später kam noch eine Gruppe vorbei, wie es scheint, Leute auf einem Betriebsausflug. Eher zufällig bogen sie zu der Kapelle ab, stellten sich breitbeinig davor auf und bedachten die Ruine mit einem ganz und gar verständnislosen, und den Betenden mit einem gleichermaßen ungläubigen Blick, woraus dann im Weitergehen ein gemeinsames starres Grinsen wurde, weniger des Hohnes als der Befremdung und der Verlegenheit."

Neben den Erzähler, der das zerfallene Heiligtum auf sich wirken lässt, tritt hier ein junger Mann. Er sammelt sich, hält inne. In die Andacht des Einzelnen und die Ruhe des Betrachters tritt störend dazwischen eine Gruppe, die eher zufällig den Weg zur Kapelle findet. Die Ausflügler stellen sich breitbeinig auf - eine plebejische Geste, die Distanz zum heiligen Ort anzeigt. Verständnislos betrachten sie die Ruine, "ungläubig" den Beter. Mit einem kollektiven Grinsen treten sie ab. Dieser Vorgang aber reißt den Erzähler aus seiner Beobachterrolle heraus. Es geht ihm schlagartig auf: Der einzelne Andächtige, der sich durch die grinsende Gruppe nicht aus der Fassung bringen lässt - er ist die Verkörperung einer anderen, erst noch zu schreibenden Geschichte. Sein einsames Schweigen steht gegen die laute Gottesvergessenheit, die keine Ahnung hat. Eine Ahnung aber braucht es.

Service

Peter Handke, "Die Wiederholung", Verlag Suhrkamp

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Franz Schubert/1797 - 1828
Album: MUSIK ZUM FILM "NOTTURNO"
Titel: Quartett für Streicher Nr.14 in d-moll DV 810 / Ausschnitt aus dem 1.Satz : Allegro
Populartitel: Der Tod und das Mädchen
Ausführende: Quartett Collegium Aureum
Ausführender/Ausführende: Franzjosef Maier /Violine
Ausführender/Ausführende: Gerhard Peters /Violine
Ausführender/Ausführende: Karlheinz Steeb /Viola
Ausführender/Ausführende: Rudolf Mandalka /Violoncello
Länge: 02:00 min
Label: EMI 7630112

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