JULIA WESELY
Aus dem Konzertsaal
ORF Radio-Symphonieorchester Wien, Dirigent: Markus Stenz; Gabriela Montero, Klavier. Richard Wagner: Ouvertüre und Verwandlungsmusik aus dem Bühnenweihfestspiel "Parsifal" Edvard Grieg: Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op. 16 Klassische Verführung: Wie viel Wagner steckt in John Adams' "Harmonielehre"? Teresa Vogl und Christoph Becher machen sich auf Spurensuche (aufgenommen am 26. Jänner im ORF RadioKulturhaus in Wien) * John Adams: Harmonielehre (aufgenommen am 28. Jänner im Großen Musikvereinssaal in Wien in Dolby Digital 5.1 Surround Sound). Präsentation: Eva Teimel
3. Februar 2017, 19:30
René Magritte hätte seine helle Freude an dieser Szene gehabt: Am gigantischen Supertanker in der Bucht von San Francisco, der mit seinem mächtigen Stahlrumpf aus dem Wasser aufsteigt und wie eine Saturn-Rakete gegen den Himmel schießt - was für ein Bild! Noch besser: Welch ein Klang, wenn dieser surrealistische Traum einen Komponisten inspiriert. Dann schieben dröhnende Akkorde ein ganzes Orchester voran, bringen es mit wuchtigen Schlägen in Fahrt und lassen es zuletzt mit flirrenden Rhythmen abheben in den klingenden Orbit.
1985 überraschte der Amerikaner John Adams die Musikwelt mit einem Orchesterwerk, das fantastische Traumbilder mit pulsierenden Klängen und verschwenderischen Orchesterfarben verschmolz. Seine "Harmonielehre" galt schnell als eines der spannendsten und wichtigsten Werke aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die kreative Weiterentwicklung der Minimal Music und zugleich ein überschwänglicher Rekurs auf die spätromantisch-expressionistische Orchestermusik des ausklingenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.
Anfang der 1970er-Jahre, als er nach dem Studium von der "europäisierten" Ostküste ins musikalisch freizügigere Kalifornien gezogen war, hatte Adams mit den repetitiven Klängen eines Terry Riley, Steve Reich oder Philip Glass experimentiert und durch seinen kreativen Umgang mit der Minimal Music schnell das Interesse von Edo de Waart, dem Chefdirigenten des San Franscisco Symphony Orchestra, geweckt. 1982 wurde er zum Composer in Residence des Orchesters ernannt und drei Jahre später entstand für das Orchester jenes Werk, das sowohl als neues Meisterwerk der Minimal Music gefeiert wurde, als auch kritische Stimmen auf den Plan rief: Den Minimalisten war der romantische Gestus des Werks suspekt, prononciertere Zeitgenossen stießen sich am "konservativen" Touch der nur wenig verschleierten Dreiklangs-Harmonien. Was jedoch am meisten irritierte, war der Titel des Werks, "Harmonielehre", der den Kontext zum gleichnamigem Lehrbuch von Arnold Schönberg, dem Schöpfer der Zwölftontechnik, beschwor.
Für John Adams selbst war dieser Bezug durchaus ambivalent. Hatte er doch bei Leon Kirchner, einem Schönberg-Schüler aus dessen amerikanischer Zeit, studiert und wie sein Lehrer Schönbergs "Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen" rundweg abgelehnt. Allerdings teilte er mit Kirchner Schönbergs Sinn für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Erbe der Vergangenheit, das in der "Harmonielehre" eine besondere Würdigung erfährt. Schönberg hatte sein Lehrbuch 1911, im Todesjahr von Gustav Mahler, veröffentlicht und dem verehrten Freund und Mentor gewidmet.
In Adams' dreiteiligem Orchesterwerk wird dieses Zeitfenster zum Ausgangspunkt für eine Reise in die Welt des ausklingenden Fin de siècle: "Ich fühle mich sehr stark angezogen von der besonderen Sensibilität dieser Epoche mit ihrer Kombination von Sinnlichkeit und intellektueller Energie", schreibt Adams über seine "Harmonielehre". "Die Schatten von Mahler, Sibelius, Debussy und des jungen Schönberg finden sich überall in diesem fremdartigen Stück. Das ist ein Werk, das auf die Vergangenheit zurückblickt." Und das über Adams' intensive Beschäftigung mit Sigmund Freuds "Traumdeutung" und ihrer Fortführung im Werk von C. G. Jung auch tiefere Schichten offenlegt. In "Amfortas Wunde", dem zweiten Satz der "Harmonielehre", wird der Bezug zum Gralskönig Amfortas in Wolfram von Eschenbachs Epos "Parzifal" und dessen qualvoller Wunde, die nur durch den heiligen Speer geheilt werden kann, zum Symbol für eine zu Ende gehende Epoche. Adams und C. G. Jung deuten die "Wunde" als Zeichen geistig-kreativer Erschöpfung, die Musik schleppt sich dahin bis zum schmerzhaften Aufschrei, der den berühmten dissonanten Neuntonakkord aus dem Adagio von Mahlers unvollendeter zehnter Symphonie zitiert. Davor schon erklingt Wagner: wenn Adams den Beginn des "Parsifal"-Vorspiels am Anfang des zweiten Satzes in einer nach Moll verzerrten Version anklingen lässt - ein weiterer Link in diesem beziehungsreichen musikalischen Traumspiel. Und zu Beginn des Konzerts, wenn das RSO Wien und Markus Stenz den Ball lustvoll aufgreifen - mit zwei Ausschnitten aus Richard Wagners originaler "Parsifal"-Musik.
Text: Albert Seitlinger
Service
Diese Sendung wird in Dolby Digital 5.1 Surround Sound übertragen. Die volle Surround-Qualität erleben Sie, wenn Sie Ö1 unter "OE1DD" über einen digitalen Satelliten-Receiver und eine mehrkanalfähige Audioanlage hören.