Keine Angst vor dem Fremden

Im Spiegel der Kulturen

Die Ethnopsychoanalyse vergleicht individuelle und gesellschaftliche Entwicklungen zwischen Kulturen und interpretiert die Erfahrung der Fremde als Spiegel des eigenen Selbst. Mario Erdheim, einer ihrer wichtigsten Vertreter, war Gast in "Von Tag zu Tag".

Mario Erdheim in "Von Tag zu Tag"

"Man weiß nicht, was man alles sagt, und eben das ist kulturwissenschaftlich interessant." Schon das erste von Mario Erdheim abgegebene Statement im Rahmen der Fachtagung "Kulturanalyse - Psychoanalyse - Sozialforschung" führte mitten ins Thema. Kulturwissenschaftlich Forschende aus unterschiedlichen Disziplinen haben im Wiener Volkskundemuseum aus Anlass des Freud-Jahres Potenziale und Bedingungen der Nutzung psychoanalytischen Wissens für die Analyse von Kultur und Gesellschaft erörtert.

Frühe Verbindungen

Kulturanthropologie und europäische Ethnologie, wie die Volkskunde sich jetzt selbst nennt, haben schon früh psychoanalytische Einsichten zur Theorie und Analyse von Kultur und Gesellschaft genutzt. "Wenn auch die Verbindungen nicht gerade auf eine breite Spur verweisen können, die geradlinig und kontinuierlich verläuft, so war sie gerade zu einem sehr frühen Zeitpunkt markant", hieß es in der Einladung zu der vom Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz, dem Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien und dem Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien ausgerichteten Fachtagung.

Zwischen 1955 und 1971 unternahm einer der Begründer der Disziplin, Paul Parin, gemeinsam mit seiner Frau Goldy Parin-Matthéy und Fritz Morgenthaler sechs ethnopsychologische Forschungsreisen in Westafrika. Neben zahlreichen Fachpublikationen im medizinischen Bereich und Essays zu Politik und Kulturkritik hat Parin aus diesen Erkenntnissen gespeist Bücher veröffentlicht wie "Die Weißen denken zu viel" und "Fürchte Deinen Nächsten wie dich selbst".

Unter den Referierenden der Wiener Fachtagung war neben Klaus Theweleit und Florence Weiss auch der Schweizer Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim zu Gast. In der Sendung "Von Tag zu Tag" sprach Erdheim über das dialektische Verhältnis von Eigen- und Fremdkultur.

Die Konfrontation mit fremden Kulturen stößt einen Reflexionsprozess über das Eigene und das Fremde an. Man kommt so zu einem schärfen Bewusstsein des Eigenen, weil in der Verfremdung die eigenen blinden Flecken deutlicher werden, das, was wir daheim nicht erkennen dürfen und können.

Gegenprogramm zum Islamismus
Die Auseinandersetzung mit dem Fremden hilft aber auch Angst zu reduzieren, eben weil es uns vertrauter wird. "Wenn sie etwa sehen, wie uns der Islam immer fremder wird, ist die Ethnopsychoanalyse eine Gegenbewegung, um herauszufinden, wie Fremdes vertraut werden kann", sagt Erdheim. Das Fremde könne zwar tatsächlich gefährlich sein. Oft werden aber nur die eigenen Ängste auf das Fremde projiziert, weil sie in der eigenen Kultur nicht wahrgenommen werden können bzw. dürfen.

Die Ethnopsychoanalyse, so Erdheim, interessiere sich dafür, wie das Individuum Kultur erlebt. Klassisch psychoanalytisch wird danach gefragt, was bewusst erlebt werden darf, was verdrängt, was abgespalten werden muss.

Ablösung, Individuation
Jede Kultur hat ihr eigene, psychische Strukturen. Das hängt mit geschichtlichen Prozessen langer Dauer zusammen. Menschen in Industriegesellschaften sind anders gestrickt als Mitglieder vormoderner Kulturen. Das zeigt sich etwa daran, dass die Ablösung des Jugendlichen von den Eltern in westlichen Kulturen viel radikaler als anderswo passiert.

Auch werden in unserer Kultur Künstler dann besonders geachtet, wenn sie neue Stile begründen und eigene Wege einschlagen. Unsere Kultur fordert und fördert die Ablösung, die Individuation, den Bruch mit der Tradition.

In gewisser Weise bezieht Erdheim diesen Zugang auch auf das eigene Schaffen. Die Ethnopsychoanalyse basiert stark auf der Kulturtheorie Freuds, die in den letzten Jahren starker Kritik unterzogen worden ist. Erdheim sieht darin kein Problem. Freud sei selbstverständlich ein Kind seiner Zeit gewesen und es könne nicht darum gehen, seine Worte wie eine Bibel zu lesen. Die Aufgabe der Nachkommenden sei es, in seinem Sinn aktuelle Fragen zeitgemäß zu beantworten.

Mehr zum Verhältnis von Kulturanalyse, Psychoanalyse und Sozialforschung in science.ORF.at

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonenntInnen können die Sendung "Von Tag zu Tag" mit Mario Erdheim vom 24. November 2006, 14:05 Uhr, nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipps
Traute Hensch (Hg.), "Paul Parin, Lesereise 1955 bis 2005, unveröffentlichte und neu veröffentlichte Texte", Edition Freitag, ISBN 3936252092

Roland Apsel (Hg.) "Ethnopsychoanalyse: Solidarität - Individualität - Emanzipation. Zu Ehren von Paul Parin zum 90. Geburtstag", Verlag Brandes & Apsel, ISBN 3860991175

Links
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Sigmund Freud Museum Wien
Freud-Institut
Wiener Psychoanalytische Vereinigung