Mit Phantasie neu gedeutet
Mozart extrem
Obwohl die Protagonisten von der "historischen Aufführungspraxis" kamen, waren es die zwei extremsten Opernereignisse im Mozart-Jahr 2006: Hier Nikolaus Harnconcourts Salzburger "Figaro", dort René Jacobs' Innsbrucker "Giovanni" - jetzt auch auf CD.
8. April 2017, 21:58
Ausschnitte aus Jacobs' "Don Giovanni"
Es waren die zwei extremsten Opernereignisse im Mozart-Jahr 2006 und total gegensätzlich in ihrer Subjektivität, obwohl die Dirigenten beide Male von der "historischen Aufführungspraxis" kamen: Hier Nikolaus Harnoncourts Salzburger "Figaro", durch die Mitwirkung von Anna Netrebko Schlagzeilen-trächtig, eine Aufführung mit bedächtigem Puls, manchmal am Rand des Verstummens, immer auf der Suche nach dem intimen Klang.
Und dort, unter anderem bei den Innsbrucker Festwochen, René Jacobs' "Don Giovanni"-Deutung, mit kühner Tempo-Dramaturgie und wilder Lust an musikalischen Verzierungen. Jacobs hat den Live-Aufführungen noch eine Studioproduktion des "Giovanni" nachgereicht, die mittlerweile mit Lob und Auszeichnungen überhäuft wird.
Jacobs' Giovanni-Interpret ist ein Twen
"Alles scheint dieser 'Don Giovanni' mit René Jacobs auf den Kopf zu stellen; was gibt es Spannenderes als Oper in dieser Art?", fragte Peter Hagmann 2006 in der "Neuen Züricher Zeitung". Tempi und Orchesterklang ignorieren die "Überlieferung", durchgehend wird mit viel "Biss" musiziert: Die Ouvertüre beginnt etwa doppelt so schnell, wie das in der Generation Böhm-Krips-Karajan üblich war.
Aber es muss andererseits auch nicht immer nur rasant zugehen: Die so genannte "Champagnerarie" ist diesmal keine Hetzjagd, sondern deutlich vernehmbar ein Tanz, den Johannes Weisser anführt, der zum Zeitpunkt der Aufnahme erst 26-jährige Bariton aus Norwegen, der zur Titelrolle aufrückte, nachdem der ursprünglich geplante Simon Keenlyside und Jacobs nicht zusammengekommen waren.
Ganz leicht fließt die Stimme, spielerisch tänzelt Don Giovanni durch die Handlung - eine Besetzung ohne die Dämonie, die ein George London, ein Ruggero Raimondi, ein Nicolai Ghiaurov der Figur verliehen haben, aber auch ohne Probleme bei den vielen musikalischen Verzierungen, mit denen René Jacobs den "Don Giovanni" ausstattet.
Verzierte Melodien, auskomponierte Rezitative
"Diese Praxis ist im heutigen Mozartgesang so gut wie ausgestorben, weil sie von fast niemandem mehr beherrscht wird - aber auch weil ein verengt verfehltes Werktreueverständnis nicht mit solch einer Praxis rechnet, die doch fürs 18. Jahrhundert völlig selbstverständlich war", meinte die "Süddeutsche Zeitung" im August 2006 nach der "Don Giovanni"-Premiere unter Jacobs' Leitung bei den Innsbrucker Festwochen ("Mit Abstand der Höhepunkt des Mozart-Jahres"). Weil er ja selbst Sänger war, Countertenor, garantiere "sein Wissen um die Geheimnisse des Singens, das den meisten seiner Dirigentenkollegen oft so erschreckend fehlt, eine Vielzahl von immer sinnvoll eingesetzten Verzierungen, die eine ungeahnte Frische in dieses so bekannte Werk bringen."
Die Mitwirkung des Freiburger Barockorchesters bürgt dafür, dass kein aufgedrehter Orchesterklang die Solistinnen und Solisten bedrängt, bei denen es im Plattenstudio gegenüber den Bühnenaufführungen einige Veränderungen gegeben hat. So ist neben Alexandrina Pendatchanska als Donna Elvira nun Olga Pasichnyk die Anna, Kenneth Tarver der Ottavio und Lorenzo Regazzo der Leporello. Aber René Jacobs lässt die Fäden ohnehin keinen Moment aus der Hand: Selbst die Rezitative, die er für seine Continuo-Spieler auskomponiert hat - mit einer Menge musikalischer Ausschmückungen - dirigiert er mit. Beiläufigkeit ist Todsünde.
"Romantische" Tempo-Rückungen?
Wenn beim Hören dieses "Don Giovanni" etwas irritiert, dann sind es Tempo-Rückungen, Verzögerungen und Beschleunigungen, die René Jacobs immer wieder in Arien und Ensembles einbaut, ohne das aus den Noten her rechtfertigen zu können. Effekte um der Effekte willen? "Romantische" Subjektivität?
Alles, was Jacobs bisher gesagt und geschrieben hat, ergänzend zu Aufführungen und Aufnahme, macht um diese Details einen Bogen, über die man aber diskutieren müsste. Wie auch immer: "Eine ziemlich ungewöhnliche, in vielem radikal neue, jedenfalls überaus belebende Begegnung mit einem scheinbar alten Bekannten" ("Neue Züricher Zeitung") ist René Jacobs' Auslegung des "Don Giovanni" unbestritten, in jedem Takt.
Mehr dazu in oe1.ORF.at
René Jacobs ist 60
Le Nozze di Figaro
Wiederaufnahme von "Le Nozze di Figaro"
Hör-Tipp
Apropos Oper, Donnerstag, 7. Februar 2008, 15:06 Uhr
CD-Tipp
W.A. Mozart, "Don Giovanni", Freiburger Barockorchester, René Jacobs, Harmonia mundi