Das Immigrantendrama auf den Kanaren
Wohin mit den Flüchtlingen?
Kaum ein Tag vergeht, an dem man nichts von Flüchtlingsbooten aus Afrika hört, die in Richtung Kanarische Inseln unterwegs sind. Allein in diesem Jahr sind rund 25.000 Afrikaner auf den Kanaren angekommen. Spanien verlangt nun von der EU mehr Hilfe.
8. April 2017, 21:58
Meinungen zur derzeitigen Situation
Seit Beginn dieses Jahres nehmen immer mehr Flüchtlingsboote aus Nord- und Mittelafrika Kurs auf die Kanarischen Inseln. Nicht weniger als 25.000 afrikanische Flüchtlinge sind dort bis dato angekommen.
Angesichts des Massenansturms ist die spanische Regierung nicht mehr in der Lage, die in der Mehrzahl aus Mail und Senegal stammenden Immigranten auch nur notdürftig unterzubringen und zu verpflegen. Die spanische Regierung fordert daher nun von der EU mehr Hilfe, um die Situation einigermaßen in den Griff zu bekommen.
Unzureichende Aufnahmeverfahren
"Wie viele Opfer sind notwendig, wie viele Fotos von erschöpften Menschen, damit Spanien und Europa sich davon überzeugen lassen, dass es sich um ein Problem handelt, das alle betrifft und dessen Lösung wir gemeinsam suchen müssen?, appellierte jüngst der Präsident der Kanareninsel, Adán Martin, im Madrider Parlament an die spanische Regierung, um raschest Abhilfe zu schaffen.
Seitens der spanischen Regierung brachte das zur Halbzeit der Amtsperiode der sozialistischen Minderheitsregierung im Vortjahr eingeleitete außerordentliche Aufnahmeverfahren, das illegalen Einwanderern die Gelegenheit bot, ihren Aufenthalt in Spanien zu legalisieren, jedenfalls nicht die erhofften Resultate .Zwar haben 750.000 Ausländer der Schattenwirtschaft den Rücken gekehrt und tragen als Steuer- und Beitragszahler heute zum Erhalt des spanischen Sozialsystems bei; doch wurden auch tausende Menschen in Afrika mit falschen Versprechungen und der vagen Aussicht auf eine neue Amnestie dazu angeregt, die Flucht nach Spanien zu wagen.
Opposition fordert neues Ausländergesetz
Der Chef der konservativen Volkspartei, Mariano Rajoy, der nach dem Abgang seines Vorgängers José Maria Aznar und der Niederlage bei den Parlamentswahlen im März 2004 erstmals Aufwind verspürt, will nun mit der Ausländerfrage punkten: Das außerordentliche Aufnahmeverfahren der sozialistischen Regierung habe wie ein Lockruf gewirkt. Die wachsende Angst der Spanier vor Überfremdung und steigender Kriminalität sei einzig der liberalen Ausländerpolitik von Premier Zapatero zuzuschreiben:
"Wir fordern eine Änderung des Ausländergesetzes und ein Verbot von außerordentlichen Aufnahmeverfahren. Das ist entscheidend. Nie wieder dürfen Ausländer durch die Aussicht auf Amnestie angelockt werden, meint er.
Menschenunwürdige Zustände
Der Flüchtlingsstrom reißt indessen nicht ab. Immer wieder ist eine neue Flüchtlingswelle auf dem Weg: Arbeitssuchende aus Afrika werden von Schlepperbanden nicht nur über Marokko zu den Stacheldrahtzäunen der beiden Exklaven in Nordafrika - Ceuta und Melilla - geschleust, sondern nehmen von den Stränden in Mauretanien oder Senegal in Holzbooten heimischer Fischer Kurs auf die Kanaren.
Die Folge: Hundertschaften ausgehungerter Afrikaner landen täglich an den Stränden von Teneriffa oder Gran Canaria. Die wenigen Auffanglager der Ferieninseln sind inzwischen hoffnungslos überfüllt, sodass die mit der Bewachung betrauten Polizisten von menschenunwürdigen Zuständen sprechen. Polizeigewerkschafter Rodrigo Gavilán etwa beschwert sich unter anderem, dass nicht einmal die sanitären Mindeststandards eingehalten würden.
Endstation Straße
Die von den Schleppern über ihre Rechte genau instruierten Klienten entledigen sich noch vor der Ankunft in Spanien sämtlicher Ausweise, um einer Rückführung in die Heimat zu entgehen. Die von den Medien als "Sin Papeles - also Papierlose - bezeichneten Einwanderer verweigern im Verhör jede Auskunft über ihre Herkunft. Ist ihre Identität nicht zu abzuklären, werden sie nach zweimonatigem Lageraufenthalt entlassen und auf das spanische Festland gebracht.
Die Senegalesin Nicole N-Dongala, die in der Madrider Hilfsorganisation Karibu arbeitet, bestätigt: "Man setzt sie in ein Flugzeug und schickt sie nach Madrid. Dort wissen sie nicht wohin und kommen zu uns um Hilfe, um Essen und Kleidung. Und alle leben sie auf der Straße.
Härtere Gangart der Regierung
Die spanische Regierung ist sich der explosiven Lage bewusst geworden. Vor einigen Wochen hat man sich zur schärferen Gangart entschlossen. Nach intensiven diplomatischen Bemühungen willigten die Regierungen von Senegal und Mauretanien der Abschiebung von rund tausend Bootsflüchtlingen zu. Im Gegenzug dürfen sie mit Wirtschaftshilfe, Entwicklungskrediten und moderner Ausrüstung für den Grenzschutz rechnen. Wie teuer die Rückführungsabkommen Spanien kommen, war allerdings nicht zu erfahren.
Luc André Diouff von der kommunistischen Gewerkschaft Comisiones Obreras meint zur Flüchtlingssituation, dass die Einwanderungswelle deshalb so die Gemüter errege, weil sie aus Afrika komme und warnt: "Ich möchte jene Politiker, die daraus Kapital schlagen wollen, daran erinnern, dass die Migrationsströme innerhalb von Afrika wesentlich größer sind, als jene nach Europa oder in die Vereinigten Staaten. Diese Bewegungen lassen sich nicht aufhalten. Wer das glaubt irrt."
Gemeinsame EU-Strategie noch nicht in Sicht
Eine gemeinsame EU-Strategie zur Sicherung der Außengrenze gegen den Ansturm der Bootsflüchtlinge forderte die spanische Regierung bisher vergeblich. Nur drei Länder, Italien, Portugal und Finnland, folgten dem Aufruf der EU-Agentur zur Sicherung der Außengrenzen namens "Frontex und entsandten drei Schiffe und ein Flugzeuge zur Unterstützung der spanischen Einheiten, die eine mehrere tausend Kilometer lange Küstenlinie zwischen Marokko und den Cap Verde-Inseln kontrollieren.
Mangels langfristiger Strategien, ausreisewillige Afrikaner durch Investitionsprogramme vor Ort von ihrem Vorhaben abzubringen, beschränkt sich die innereuropäische Diskussion zur Zeit auf die Frage, wie die Kosten und Lasten der Betreuung von Flüchtlingen gerecht verteilt werden können.
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