Indien - Teil 4

Der gespaltene Subkontinent

Die gemeinsame Geschichte von Hindus und Muslimen im indischen Subkontinent ist gekennzeichnet von wechselseitigen Beeinflussungen und vielen kulturellen Synkretismen, aber ebenso von schlimmen Vorurteilen und schweren Konflikten.

Die Lage der indischen Muslime sowie die Spannungen zwischen Hindus und Muslimen lassen sich nicht verstehen ohne das Wissen um die Teilung des Subkontinents in die beiden Staaten Indien und Pakistan im Jahr 1947. Diese Teilung wurde von grauenhaften Gemetzeln überschattet. Hindus und Sikhs zogen nach Indien, Muslime nach Pakistan. Kurz nach der Teilung brach der erste von bisher drei Kriegen um die mehrheitlich muslimische Region Kaschmir aus, die zwischen Indien und Pakistan geteilt wurde. Der Streit um Kaschmir steht hinter zahlreichen terroristischen Anschlägen in Indien in den vergangenen Jahren.

Die große Mehrheit der indischen Muslime hat allerdings nie für die Schaffung Pakistans gestimmt. Die meisten Muslime - darunter insbesondere südindische Muslime und die ärmeren Schichten der nordindischen Muslime - dachten auch nie an Emigration und blieben in Indien, wo heute - je nach Angaben - zwischen 130 und 150 Millionen Muslime leben.

Konservative Mittelklasse

Nach Pakistan zog insbesondere die nordindische muslimische Mittelschicht, die damit für Jahrzehnte ein soziales Vakuum hinterließ, sagt Zoya Hasan, Politikwissenschafterin an der Jawaharlal Nehru Universität in Neu Delhi. Erst ab den 1970er Jahren bildete sich eine neue Mittelklasse heraus, die sich von der alten muslimischen, aber auch der alten wie der neuen Hindu-Mittelklasse stark unterscheidet.

Die neue muslimische Mittelklasse besteht vor allem aus Selbstständigen - aus Handwerkern, Kleinindustriellen und Geschäftsleuten -, die auch dank der Verbindungen zu den Golfstaaten zu neuem Wohlstand gekommen sind. Das aber ist eine Mittelschicht, für die Bildung kein so bedeutendes Kapital darstellt. "Es ist eine konservative Mittelklasse, die auch Bildung für Frauen nicht als notwendig erachtet", erklärt Zoya Hasan.

Einheitliches Familienrecht gefordert

Mit der Teilung des Subkontinents haben sich Hindunationalisten emotional nie abfinden können. Der neue Aufstieg des Hindunationalismus seit den 1990er Jahren, die Zerstörung der Babri-Moschee im nordindischen Ayodhya im Dezember 1992 und die Pogrome an Muslimen im Bundesstaat Gujarat 2002 haben die Atmosphäre nachhaltig vergiftet und zu einer massiven Festigung religiöser Identitäten geführt. Dies blockiert auch die Rechtsreform, die viele Frauen als notwendig erachten würden.

In Indien haben die einzelnen Religionsgemeinschaften weiterhin ihr jeweils eigenes Familienrecht. Die Bemühungen um ein landesweit gültiges, einheitliches Familienrecht sind aber äußerst umstritten.

"Das muslimische Familienrecht ist zu einer Frage der muslimischen Identität geworden", sagt Zoya Hasan. Zugleich haben die Angriffe der Hindunationalisten, die das muslimische Recht zu einer ihrer Zielscheiben gemacht haben, die Muslime in die Defensive getrieben. Selbst die progressive muslimische Mittelklasse, die es inzwischen wieder gibt und die wie jede andere progressive Mittelschicht Veränderungen anstrebt, ist defensiv geworden.

Mehr Bildung für Frauen

Landesweit engagieren sich inzwischen Frauengruppen für mehr Bildung und Rechte für muslimische Frauen. Neue muslimische Autorinnen erheben ihre Stimme, wie die 34-jährige A. Rokkaiah, die in ihrem Ort in Tamil Nadu Gemeinderatsvorsitzende ist. Unter dem Pseudonym Salma hat sie bereits zwei Anthologien von Gedichten und Kurzgeschichten und einen kritischen Roman über das Patriarchat und die Enge in ihrer muslimischen Gesellschaft veröffentlicht.

Mehr zu Indien in oe1.ORF.at:
Schreibende Frauen
Land der 1000 Sprachen
Die neue Mittelschicht

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 18. September 2006, bis Donnerstag, 21. September 2006, 9:05 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendereihe "Radiokolleg" (mit Ausnahme der "Musikviertelstunde") gesammelt jeweils am Donnerstag nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipps
Attia Hosain, "Licht auf zerborstenen Säulen", aus dem Englischen übersetzt von Anna Winterberg, DVA, ISBN 3421042381

Saadat Hassan Manto, "Schwarze Notizen. Geschichten der Teilung. Erzählungen", ausgewählt und aus dem Urdu übersetzt von Christina Oesterheld, Suhrkamp Verlag, ISBN 3518224093

Altaf Tyrewala, "Kein Gott in Sicht", aus dem Englischen übersetzt von Karin Rausch, Suhrkamp Verlag, ISBN 3518418467

Cornelia Zetzsche (Hg.), "Zwischen den Welten. Geschichten aus dem modernen Indien", Texte von 53 Autorinnen und Autoren aus 11 Landessprachen, Übersetzungen von Giovanni und Ditte Bandini u. a., Insel Verlag, ISBN 3458173145