Eigenwillige Biografie Arthur Rimbauds

Brüchige Tage

Arthur Rimbaud gilt als eines der größten Dichtergenies der Weltliteratur. Philippe Bessons romanhafte Biografie Rimbauds wird allerdings aus dem Blickwinkel seiner Schwester erzählt, die ihn bis zu seinem frühen Tod aufopfernd gepflegt hat.

Mit 20 war es vorbei, das Dichterleben eines der größten Genies, das die Weltliteratur hervorgebracht hat. Nach dem "Bateau ivre", nach der "Saison en enfer", nach den "Illuminations" - Werken, die Arthur Rimbaud unsterblich machten und in der kurzen Zeitspanne zwischen 1871 und 1875 entstanden sind - hat Rimbaud mit dem Schreiben aufgehört.

"Bauer" auf dem Hof der Mutter ist er nicht geworden, aber Kaufmann, allerdings in Afrika, mehr Abenteurer auch als Kaufmann, unter sengender Sonne, dem Tode oft nahe, ein Liebhaber dunkelhäutiger Jünglinge.

Und wieder 15 Jahre später kehrt Arthur Rimbaud im Frühjahr 1891 todkrank nach Frankreich zurück und landet in Marseille; dort wird ihm ein Bein amputiert; dort holt ihn die hartherzige Mutter ab und bringt ihn zurück in das Nest Charleville, in eine kalte, unwirtliche Gegend in den Ardennen.

In Rückblenden erzählt

Hier setzt Philippe Bessons Buch ein. Einiges wird in Rückblenden erzählt, aber Rimbauds Werk, das für uns das Zentrum ausmacht, bleibt ausgespart. Erzählt wird aus der Perspektive von Rimbauds Schwester Isabelle, der Besson ein fiktives Tagebuch unterschiebt, in das sie ihre Gedanken, ihre Berichte vom Krankenlager des Dahinsiechenden, ihren Kampf mit dessen unbändigem Geist, seinem Freiheitswillen, seiner Verzweiflung, seiner Resignation, seiner Blasphemie schreibt.

Sonntag, 11. Oktober
Ich versuche, seine Schmerzen zu lindern, aber die Krisen folgen immer schneller aufeinander. Ich füttere ihn, aber er verweigert die Nahrung oder gibt sie wieder von sich, kaum dass er sie geschluckt hat. Ich mache sein Bett, aber schon eine Stunde später sind die Laken wieder völlig zerwühlt. Morgens lege ich ihm neue Verbände an, die sich auflösen, ehe es Abend ist. Ich rede mit ihm, aber er verfällt immer häufiger in eine tiefe Lethargie. Ich wechsle seine Wäsche, aber der Schweiß und das Blut zwingen mich, die Aktion zu wiederholen. Alles ist zum Scheitern verurteilt. Alles ist vergeblich. Mutlosigkeit befällt mich. Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass der Tod kommt.

Der Legende etwas entgegensetzen

Das Buch zehrt vom Mythos Rimbaud, dem man sich nur schwer entziehen kann; es will der Legende, die die Familie nach Rimbauds Tod in die Welt setzte, der Legende vom schließlich zu Gott bekehrten Dichter etwas entgegensetzen: die Schilderung des schieren körperlichen Verfalls. Unerträglich sind manchmal die sich immer wieder wiederholenden Passagen, in denen Rimbauds faulende und schwärende Wunden, das Fortschreiten des Krebses, das ständige Fieber beschrieben werden. In diesen Passagen löst sich der Text vom Körper des Dichters und wird zum Menetekel von Leiderfahrungen.

Rimbauds Schwester ist die gleichberechtigte Protagonistin in diesem Buch. Sie ficht einen schweren inneren Kampf gegen die Zumutung aus, die ihr Bruder für sie bedeutet; weniger seiner Krankheit wegen, als vielmehr seines Lebenswandels wegen, seiner Homosexualität, die mit einer Mehrfachvergewaltigung begann, seiner Affäre mit dem Dichter Paul Verlaine, der am 10. Juli 1873 zwei Schüsse auf den Freund abgab und ihn dabei schwer verletzte. Aber: "Ich bin eine Frau, die vor dem Unverständlichen kniet", sagt Isabelle oder eher der Autor an einer Stelle, und dies in der Doppelbedeutung des Satzes: Die Schwester kniet vor Gott und betet für die Seele ihres blasphemischen, verdorbenen Bruders.

Der Andere

"Je est un autre" - "Ich ist ein anderer" - lautet das wohl berühmteste Zitat Rimbauds aus seinen "Briefen des Sehenden", in denen seine Poetik enthalten ist. Diesen Anderen ahnt Isabelle hinter all den Posen noch des Todgeweihten; vielleicht auch ist ihr Bruder Arthur Isabelles einziger Geliebter; vielleicht bleibt sie auch deswegen alleine mit ihrer unbarmherzigen, gefühlskalten Mutter auf dem Hof zurück, weil sie die Hingabe an ihren Bruder zu ihrem einzigen Lebenszweck gemacht hat. So suggeriert es zumindest das Buch von Philippe Besson.

Zuerst ist das Buch eine langatmige Zumutung, und man fragt sich: Wozu das alles? Aber dann entfaltet es seine Stärke in der beschriebenen Insistenz auf dem Leid und der Verzweiflung, die das letzte halbe Jahr im kurzen Leben Arthur Rimbauds bestimmten. Jetzt wird die Schlichtheit des Stils, die Schlichtheit der erzählerischen Mittel, das völlige Fehlen dessen, was Rimbaud für uns heute ausmacht, auch zur Qualität - wenn auch mit Einschränkungen: Es bleibt bei der Lektüre ein zwiespältiges Gefühl.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 30. Juli 2006, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Philippe Besson, "Brüchige Tage", aus dem Französischen übersetzt von Caroline Vollmann, dtv, ISBN 3423245301