Wo Bücher noch zu Staatsaffären werden

Wie in einem Roman

Weit bis ins 20. Jahrhundert hinein schrieben isländische Autoren noch weiter Heldensagen in Form epischer Romane. Diese Tradition setzt der Skandalschriftsteller Hallgrimur Helgason jedenfalls nicht fort - und hat damit großen Erfolg.

Island, hast du es besser? Deine 280.000 Einwohner konnten sich 2004 über 649 Buchneuerscheinungen aus heimischen Verlagen freuen, darunter 56 isländische (und 63 übersetzte) Romane und 33 Lyrikbände. Obwohl Bücher in Island teuer sind, verkaufen sich Topseller bis zu 10.000 Mal, auch Gedichtbände können mit einem Absatz von 500 oder gar 1000 Exemplaren rechnen.

Auf Österreich umgerechnet wären das Auflagen von 250.000 für die Bestseller und für Lyrik zwischen 15.000 und 30.000; tatsächlich gilt man bei uns mit 2.500 verkauften Prosa-Exemplaren und ein paar Hundert Lyrik-Bänden schon als "äußerst erfolgreich".

Aus Sorge um die Sprache

Die Bedeutung von Literatur in und für Island ist kaum vergleichbar. Dazu trägt wohl die Sorge um den Erhalt der Sprache bei - deren Grammatik sich, anders als bei den skandinavischen Verwandten Dänisch, Norwegisch, Schwedisch, seit der Zeit der Wikinger kaum verändert hat. Und zugleich der Stolz auf eine seit rund 1000 Jahren ununterbrochene mündliche und schriftliche Überlieferung - auf die Liedersammlungen der Edda und die höfische Skaldendichtung, aber auch auf die Geschichtsschreibung in Prosaform. Formvollendet und blutrünstig erzählen die Sagas von Heldenmut, Hinterlist und Rache.

Laxness' Bruch mit der Tradition

Eine mächtige Tradition kann übermächtig werden. Weit ins 20. Jahrhundert hinein, als die Mehrheit der Bevölkerung schon längst in Städten lebte, schrieben isländische Autoren, gefangen von den Vorbildern, weiter Heldensagen: epische Romane vom Ausharren der letzten Bauern, von alten Werten und Weisen.

Erst der Nobelpreisträger Halldór Laxness (1902 bis 1998) brach mit Konventionen und Idealisierungen. In trockenem Stil zeigte er das Leben von Bauern und Fischern als elend und brutal, die Menschen als verschroben und niederträchtig, aber auch großherzig, erfinderisch, sprachmächtig.

Letzter Nationalschriftsteller der Welt

Laxness' Bücher waren Skandale. Man sorgte sich um das Ansehen des Landes; einflussreiche Persönlichkeiten forderten, die Übersetzung in andere Sprachen zu verbieten - bis die weltweite Anerkennung nicht mehr ignoriert werden konnte, bis 1955 der Anruf aus Stockholm kam. Aus dem Nestbeschmutzer Halldór Laxness wurde, wie sein Biograf Halldór Gudmundsson es nannte, der letzte Nationalschriftsteller der Welt.

An einem so mühsam errichteten Denkmal lässt man dann nicht gerne kratzen. Der Roman "Höfundur Íslands" (Deutsch: Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein) des Schriftstellers Hallgrímur Helgason löste vor vier Jahren eine nationale Debatte aus.

Schonungslose Abrechnung

Helgason lässt Laxness - notdürftig hinter einer fiktiven Figur anderen Namens versteckt - als Greis in einem seiner eigenen Romane aufwachen, Jahrzehnte in der Zeit zurückgeworfen. Quälende Erinnerungen überfallen den Alten und nötigen ihn zu einer schonungslosen Abrechnung: mit seinem politischen Zickzack-Kurs und seiner zeitweiligen Verehrung für Stalin, seiner Feigheit und Eitelkeit, mit der er Jahr für Jahr dem Nobelpreis entgegenfieberte. Auf diese Entweihung folgte eine Flut von Kommentaren, Rezensionen, Leserbriefen.

Ablehnung ...

Es war nicht der erste Skandal um Hallgrímur Helgason, geboren 1959. In seinem Roman "Thetta er allt ad koma" (bedeutet sinngemäß: Es geht alles seinen Gang) hatte es deutliche Anspielungen auf bekannte Familien gegeben. Und "101 Reykjavík" war erst recht auf Ablehnung gestoßen: Die sexuellen Fantasien und der inhaltsleere Alltag eines lethargischen jungen Mannes und das ausschweifende Partyleben der Hauptstadt wären kein Stoff für einen Roman - jedenfalls nicht in Helgasons Art der Darstellung.

... und internationaler Durchbruch

Dann kam der internationale Durchbruch: "101 Reykjavík" wurde für den Nordischen Literaturpreis nominiert, in ein halbes Dutzend Sprachen übersetzt und erfolgreich verfilmt. Und immer mehr Kritiker begannen die literarischen Qualitäten Helgasons zu entdecken: die Wortspiele, die Sprachschöpfungen, die geniale Gestaltung der Innensicht der beschriebenen Innenwelten. Wer weiß, vielleicht wird eines Tages ein isländischer Schriftsteller ein Buch schreiben, in dem Hallgrimur Helgason als alter Mann in einem seiner eigenen Romane aufwacht.

Hör-Tipp
Tonspuren, Freitag, 7. April 2006, 22:15 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipps
Hallgrimur Helgason, "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein", Klett-Cotta Verlag, ISBN 3608936521

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Hallgrimur Helgason, "101 Reykjavik", Klett-Cotta Verlag, ISBN 3608930698

Link
Hallgrimur Helgason