Alles ist Zufall

Divisadero

Michael Ondaatjes neuer Roman hat keine Handlung im herkömmlichen Sinn, es sind Bruchstücke, die erzählt werden. Michael Ondaatje verwebt dieses Sammelsurium an- und abbrechender Einzelszenen und Fragmente zuletzt doch zu einem poetischen Ganzen.

Autrey bietet hoch. Coop tut so, als überlege er, schiebt seine Chips hin und her. Überlegt nochmals - und geht mit. Im Pot sind nun über hunderttausend Dollar. Jetzt ist sogar Autrey schweigsam geworden. Coop hebt die letzte Karte vom Stapel. Als er sie umdreht, flüstert er im Geist ihren Namen.

In der Welt der professionellen Poker-Spieler, in den Casinos von Las Vegas, von Lake Tahoe und wie jene glitzernden Städte sonst noch heißen, siedelt Michael Ondaatje Teile seines neuen Romans "Divisadero" an. Cooper, kurz "Coop" genannt, heißt eine seiner Hauptfiguren, ein etwas orientierungsloser junger Mann, der sich seinen Lebensunterhalt mit dem Kartenspielen verdient.

Die Rache der Abgezockten

Genau gesagt ist Coopers eigentliche Stärke das Mischen der Karten: das gezielte Präparieren der Kartenstapel, auch unter der scharfen Beobachtung seiner Gegenspieler, bevor ausgeteilt wird. Und wenngleich Cooper noch nie etwas nachgewiesen wurde, kann das auf die Dauer nicht gut gehen.

Im Halbschlaf wurde er aus dem Bett gerissen. Die Männer brachten ihn in das Wohnzimmer, setzten ihn auf einen Rohrstuhl und fesselten seine Hände mit Klebeband an den Stuhl. Für einen Augenblick standen sie schweigend um ihn herum.

Die folgende schmerzhafte Racheaktion abgezockter Gegenspieler übersteht Cooper ohne bleibende körperliche Schäden, doch er hat sein Gedächtnis verloren.

Kaleidoskopartige Fragmente

Es gibt keinen durchgehenden Strang, keine lineare Logik, nach der die Geschehnisse sich ordnen ließen, lautet Michael Ondaatjes poetisches Programm. Das Leben selbst funktioniert nicht so, und somit auch Ondaatjes Literatur nicht. Ein junger Mann, der sein Gedächtnis und damit seine Vergangenheit verloren hat, scheint für die Umsetzung dieses Konzepts geradezu prädestiniert. Coop begegnet in diesem Zustand nach langer Zeit einer seiner beiden Schwestern, die er allerdings nicht erkennt.

Schon die Familienverhältnisse spiegeln das Fragmentarisch-Kaleidoskopartige wider, das Michael Ondatjes Schreiben ausmacht: Tatsächlich handelt es sich nicht um Geschwister, jedenfalls der Geburt nach nicht. Lediglich Anna ist wirklich die Tochter ihres Vaters, ihre Mutter verstarb bei der Geburt. Spontan adoptierte der frisch gebackene und zugleich verwitwete Vater noch im Krankenhaus ein zweites Mädchen, Claire, dessen Mutter ebenfalls bei der Geburt gestorben war, und deren Vater unbekannt ist. Wenig später nahm der kalifornische Farmer dann noch einen Buben aus der Nachbarschaft auf, dessen Eltern von einem ihrer Farmarbeiter ermordet wurden: Cooper.

"Wie nichtig wir doch sind"

Als es unter den herangewachsenen Teenagern zu einer Liebesaffäre zwischen Coop und Anna kommt, sprengt der Vater die zusammengewürfelte Familie allerdings wieder, in einem Gewaltausbruch ohnegleichen vertreibt er seine Kinder.

Wie nichtig wir doch sind. In unserer Jugend denken wir, wir seien der Mittelpunkt des Universums. Doch wir reagieren lediglich, schlagen zufällig diesen Weg ein oder jenen, wir überleben oder gedeihen durch den Zufall des Loses, fast ohne Wahlmöglichkeit oder ohne eigenen Willen.

Solche Sätze streut Ondaatje immer wieder in seinen Text ein, wobei immer unklar bleibt, welcher seiner Hauptpersonen er sie eigentlich in den Mund legt.

Dichtes poetisches Gefüge

Nichts ist geplant, alles ist Zufall. Michael Ondaatjes Roman hat keine Handlung im herkömmlichen Sinn, die man nacherzählen oder auf die man sich einen Reim machen könnte. Es sind keine Linien, sondern Bruchstücke, vielleicht: Bruchlinien, die erzählt werden, wie achtlos und ohne Zusammenhang hingeworfen.

Michael Ondaatje verwebt dieses Sammelsurium an- und abbrechender Einzelszenen und Fragmente zuletzt eben doch zu einem Ganzen, zu einem poetisches Gefüge von hoher Dichte, psychologischer Präzision und reicher Bebilderung. Darin liegt der große Reiz dieses oft fremdartig anmutenden Texts.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 24. August 2007, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 26. August 2007, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Michael Ondaatje, "Divisadero", aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz, Hanser Verlag, ISBN 9783446209237