In Pasolinis Fußstapfen

Gomorrha

Roberto Saviano schildert grausamste Verbrechen, rekonstruiert Schmuggelrouten für Drogen, Waffen und gefälschte Markenartikel, analysiert weltweite Finanzströme und berichtet aus dem Hafen von Neapel, dem gigantischen Umschlagplatz für Menschen und Waren.

Im November 1974 ist in der bürgerlich-konservativen italienischen Tageszeitung "Corriere della sera" ein Aufsatz mit dem Titel "Il romanzo delle stragi", zu deutsch: "Der Roman von den Massakern", erschienen.
Sein Autor hieß Pier Paolo Pasolini, sein Thema waren die von italienischen Neofaschisten mit - wie man heute weiß - tatkräftiger Unterstützung und Anleitung durch Geheimdienst und CIA verübten Attentate und Massaker jener Jahre: in Mailand, in Brescia und im Schnellzug von Florenz nach Bologna.
Am Höhepunkt dieser so bezeichneten "Strategie der Spannung" sollte in Italien ein autoritäres Regime errichtet werden. Als Bollwerk gegen den "Feind von außen" - die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten - und vor allem gegen den "Feind im Innern" - die traditionell starke italienische kommunistische Partei und die Gewerkschaften.

Io so, ich weiß
"Ich weiß die Namen der Verantwortlichen für das, was man Putsch nennt", hebt Pasolini in seinem Aufsatz an. Dieses "Ich weiß" wiederholt er in verschiedenen Variationen - "Ich weiß die Namen der Mächtigen", "Ich weiß die Namen der bedeutenden Persönlichkeiten", "Ich weiß die Namen des Spitzengremiums" und so weiter und so fort. Über eine Seite erstreckt sich diese Anklage, mit der der Schriftsteller und Filmemacher die italienische Öffentlichkeit und die politische Opposition, die Linke, herausfordert. Denn, so heißt es am Ende der Litanei: "Ich weiß. Aber mir fehlen die Beweise. Ich habe nicht einmal Indizien".

Mehr als dreißig Jahre später kehrt dieses Stilmittel des "Ich weiß", des "io so", wieder in die italienische Literatur zurück. Diesmal heißt es aber: "Ich weiß, und ich habe Beweise."

An Pasolinis Grab im friulanischen Casarsa formuliert der Neapolitaner Roberto Saviano, geboren 1979, vier Jahre nach Pasolinis Ermordung, das "Ich weiß meiner Zeit", wie er es nennt.

"Ich weiß, und ich habe Beweise. Ich kenne das Fundament, auf dem die Wirtschaft ruht, und ich kenne ihren Geruch. Den Geruch von Sieg und Erfolg. Ich weiß, woher das Geld kommt. Ich weiß".

Ein italienischer Wallraff
Auf 360 Seiten, gegliedert in zwei Teile und insgesamt elf Romankapitel, teilt Saviano sein Wissen mit, schildert grausamste Verbrechen, berichtet aus jenen nördlichen Stadtteilen Neapels, in denen sich das Gewaltmonopol schon lange nicht mehr in den Händen des Staates sondern in denen der rivalisierenden Clans befindet, zitiert aus Ermittlungsprotokollen der neapolitanischen "Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft", rekonstruiert Schmuggelrouten für Drogen, Waffen und gefälschte Markenartikel, analysiert weltweite Finanzströme und reportiert als "italienischer Wallraff", wenn man ihn so nennen will, aus dem Hafen von Neapel, dem gigantischen Umschlagplatz für Menschen und Waren aller Art.

Anders als Pier Paolo Pasolini in seinem Zeitungsessay nennt Roberto Saviano in seiner Romanreportage mit dem Titel "Gomorrha" - eine auf das biblische Sodom und Gomorrha zielende Verballhornung der neapolitanischen und kampanischen Mafiaorganisation "Camorra" - auch die Namen. Die der Opfer und vor allem die der Täter. Ein Alphabet der Macht und der Gewalt. Von Aprea und Celeste über Di Lauro und Licciardi bis Misso und Sorrentino.

System der Profitmaximierung
Mehr als 30 Familienclans haben sich die eine Million Einwohner zählende Stadt Neapel und das Umland in Reviere und Zonen aufgeteilt. Ein System, das der rücksichtslosen Profitmaximierung in allen legalen und illegalen Wirtschaftsbereichen dient, das über Jahre reibungslos funktioniert, als gottgegebene Alltäglichkeit hingenommen wird und erst dann für Empörung und internationale Schlagzeilen sorgt, wenn sich die Clans wieder einmal bekämpfen, wenn mit harten Drogen vollgepumpte Kindersoldaten der Camorra außer Kontrolle geraten, wenn Unschuldige und vor allem Touristen den Fehden und Anschlägen zum Opfer fallen. So geschehen im Jahre 2004, als der Bandenkrieg 142 Menschenleben forderte; so geschehen im Vorjahr, als nach der Sommersaison schon 70 Tote in Neapel gezählt wurden, und die Hoteliers der nahen Insel Capri und der mondänen amalfitanischen Küste ihre Gäste inständig vor Ausflügen ins "bella Napoli" warnten.

141 Morde pro Jahr
Roberto Saviano macht in seinem Buch eine Rechnung auf, zählt die Morde seit seinem Geburtsjahr 1979 bis 2005, kommt auf insgesamt 3600. Errechnet man den Jahresschnitt sind es 141 Morde per anno. "Im System der Camorra", schreibt Saviano, "ist Mord eine schlichte Notwendigkeit, vergleichbar einer Bankeinzahlung, dem Erwerb einer Konzession, dem Bruch einer Freundschaft". Mord zählt in Neapel und Umgebung also zum normalen Tagesgeschäft, hat nichts zu tun mit südländisch emotionaler Raserei oder familiären Blutfehden, die immer wieder zur offiziellen Erklärung und Beschwichtigung bemüht werden.

Schon der Name Camorra, dessen etymologische Abstammung nach wie vor ungeklärt ist - vom Würfelspiel über die Schlägerei bis zur Bande reichen die Interpretationen -, ist nichts anderes als Folklore. "Nur Staatsanwälte, Journalisten und Drehbuchschreiber" reden von der Camorra, sagt Saviano, für alle anderen vor Ort ist es schlicht "das System". Und wie dieses "System" in all seinen Sparten, Facetten und Verästelungen funktioniert, das beschreibt der Journalist Roberto Saviano faktenreich, profund, atmosphärisch und spannend.

Vielfältige Lektüre
Man kann dieses Buch auf viele Arten lesen: als Sachbuch, als Reportage, als Thriller. Man kann darüber debattieren, ob es sich bei "Gomorrha" um Literatur oder um gehobenen Journalismus handelt. Für alles lassen sich Belege und Anknüpfungspunkte finden; nur: diese Debatte ist unnütz. Schon von der Kapiteldramaturgie her ist klar, dass Saviano aufs Ganze, auf die Totale zielt. Ein Wirtschaftszweig nach dem andern wird abgehandelt: vom Zement der Baustoffindustrie bis zum Giftmüll auf den Feldern Kampaniens; von den meist aus Ex-Jugoslawien stammenden Kalaschnikows und Schusswesten, die an den Jungcamorristen im Echtversuch getestet werden, bis zur Qualität und Stärke des Drogenverschnitts, der an den Junkies von Neapel und Umgebung in einem offenen und kostenlosen Feldversuch ausprobiert wird, solange bis das Mischverhältnis stimmt, und keines der menschlichen Versuchskaninchen mehr unbefriedigt von dannen zieht oder - was öfter geschieht - an einer Überdosis krepiert und auf der Straße liegen bleibt. Schutzgelder, Korruption, gefälschte Textilien und High-Tech-Artikel machen nur noch das Zubrot in einem System aus, das den Kapitalismus in seiner zugleich ursprünglichsten und modernsten Form darstellt. Ursprünglich, weil am historischen Beginn des Privateigentums der Raub steht, modern, weil die di Lauros, lo Russos, Licciardis - und wie die ganzen Familien heißen - eine "Avantgarde" der kapitalistischen Globalisierung bilden.

Kids und Killer
"Die Stärke des kriminellen Unternehmertums in Italien", schreibt Roberto Saviano, "liegt gerade darin, stets zweigleisig zu fahren und den kriminellen Gelderwerb niemals aufzugeben". Auch dann nicht, wenn man die Drogen- und Schmuggelmillionen schon lange gewaschen hat, und als ehrenwerter Baumeister oder Gastronom auftritt. "Die Logik dieses kriminellen Unternehmertums", heißt es an anderer Stelle, "ist identisch mit radikalstem Neoliberalismus". Nur noch die Kids und Killer, die des öfteren dieselben sind, sehen sich als "Mafia-Helden" aus diversen Hollywood-Streifen. Die Klügeren wollen nicht Al Capone werden, sondern Flavio Briatore, schreibt Saviano. "Geschäftsleute, die sich mit Models schmücken können", kurzum: erfolgreiche Unternehmer.

Im Herrschaftsraum der Camorra
Der deutsche Untertitel für Roberto Savianos Bestseller "Gomorrha" lautet "Reise in das Reich der Camorra". Das italienische Original ist da schon genauer: "Viaggio nell´ impero economico e nel sogno di dominio della camorra". Zu deutsch: "Reise ins Wirtschaftsreich und in den Herrschaftstraum der Camorra".

Wer auf dieser atemberaubenden literarisch-journalistischen Reise so etwas wie Hoffnung sucht, der wird enttäuscht sein. Zwar gibt es da die Figur eines Priesters in Savianos Heimatgemeinde Casal di Principe, der gegen das System predigt und die Camorristen von den Sakramenten ausschließt, doch der ist schon lange tot. Erschossen im März 1994, an seinem Namenstag. Und die wenigen Bürgermeister, oft kommunistischer Provenienz, die gegen die Camorra mobil machen, stehen einer Vielzahl von mafios unterwanderten und schließlich per Gesetz aufgelösten Kommunalparlamenten und Gemeindeverwaltungen in Kampanien gegenüber.

"Freies Unternehmertum"
Die Hoffnung, so muss man es wohl sehen, besteht darin, dass dieses Buch geschrieben und veröffentlicht worden ist. Dass Roberto Saviano sein von Pasolini entlehntes "Ich weiß" mit Namen und Beweisen versehen hat. Sodass man auch außerhalb und fernab von Neapel und Umgebung jetzt wissen kann und muss, dass Camorra, Mafia, N´drangheta und wie die ganzen Organisationen heißen mögen, nichts, aber auch schon gar nichts mit Banditenromantik, Rebellion und Hollywood zu tun haben. Es geht ums "freie Unternehmertum". Das zu wissen, zu verstehen und zu ergründen, schreibt Saviano am Ende von "Gomorrha", "ist nicht bloß eine moralische Pflicht, es ist eine Überlebensfrage. Ohne diese Selbstverpflichtung ist kein menschenwürdiges Dasein möglich".

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:05 Uhr

Buch-Tipp
Roberto Saviano, "Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra", Aus dem Italienischen von Friederike Haussmann und Rita Seuß, Hanser Verlag, ISBN 9783446209497

Link
Hanser - Gomorrha