Die Welt des Raymond Federman

"When I speak I am telling myself"

Der französisch-amerikanische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Raymond Federman zählte zur amerikanischen Avantgarde. Er erfand Wörter, verband Sprache mit Musik und erzählte Geschichten, die seine eigenen waren oder eines Tages dazu wurden.

Er hatte zwei Geburtstage. Neben dem 15. Mai 1928 zählte für den französisch-amerikanischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Raymond Federman der 16. Juli 1942 als Datum, an dem er neu geboren wurde. An diesem Tag wurde in Paris die Wohnung der Familie Federman gestürmt und seine Eltern und die beiden Schwestern von der Gestapo abgeholt, später nach Auschwitz deportiert. Der 14jährige Raymond überlebt als einziger seiner Familie den Holocaust, weil seine Mutter ihn in den Wandschrank stößt. Dieses Erlebnis, die Entscheidung seiner Mutter für ihn und gegen die Schwestern, die darauffolgenden schlimmsten Stunden seines Lebens, lässt ihn nie wieder los, wird beherrschendes Thema seines literarischen Werkes.

Alles oder nichts

Er kann auf dem Land untertauchen und 1947 in die USA emigrieren. Mit Gelegenheitsarbeiten und als Jazzsaxofonist schlägt er sich durch. Schon in Paris ist er mit Jazz in Berührung gekommen, nun lernt er Charlie Parker und den Bebop kennen.
Die Aussicht auf ein Stipendium lässt Federman zum Militär gehen, wo ihm seine Französisch-Kenntnisse den Kriegseinsatz in Korea ersparen; er bleibt als Übersetzer in Tokio. Federman, der Pendler zwischen den Sprachen, wird 1953 amerikanischer Staatsbürger, ein Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaften und die Dissertation über Samuel Beckett, dem er seit der ersten Begegnung 1963 in Paris eng verbunden war, folgen.

Was Federman erzählt, ist mehr oder weniger seine eigene Geschichte. Der Autor entwickelte bereits in jungen Jahren einen radikalen Erzählstil. In seinem Romandebüt "Double or Nothing", das heute zu einem wichtigen Werk der konkreten Poesie zählt, finden seine Gedankensprünge und Geistesblitze auch ihre grafische Entsprechung. Gelesen wird vorwärts, rückwärts, seitwärts, keine Seite sieht so aus wie die andere in seinem humorvollen "Nudelroman". Das Wort Nudeln taucht häufig auf in dem Roman, aber wovon handelt er? Ist Federman der junge Mann, der sich in seinem Zimmer einschließt, um einen Roman zu schreiben?

Sprache, Lachen und Musik

Als seine frühesten Einflüsse nennt Federman, Grandseigneur der amerikanischen Literaturavantgarde, die Schriftsteller William S. Burroughs und Kurt Vonnegut. Getrieben vom sehnlichen Wunsch, seine Sprachen Englisch und Französisch zu verschmelzen, überrascht Federman immer wieder mit Wortschöpfungen wie "laughterature" oder "pla(y)giarism". Die Begriffe "surfiction" und "critifiction", die er während seiner Poetik-Vorlesungen 1990 in Hamburg prägte, haben sogar Eingang in das Oxford English Dictionary gefunden. "Surfiction" ist für Federman "jene Art von Literatur, die die spielerische Irrationalität des Menschen offenbart statt seine selbstgewisse Rationalität."

Seit Federman 1993 bei einer Lesung in Aachen Musik des deutschen Jazz-Ensembles ART| De Fakt hörte, die basierend auf seinen Texten komponiert war, ging er gemeinsam mit den Musikern auf Deutschland-Tournee. Wenn er mit Art|De Fakt auf der Bühne steht, interessiert ihn vor allem eines:

... zu sehen, zu hören, wie meine Worte Teil der Musik werden. Nur wenn ich ein Wort-Solo, ohne Musik, mache, bin ich daran interessiert, dass das Publikum die Bedeutungen erfasst. Und ich weiß, dass es klappt, wenn ich mir die Betroffenheit und das Lachen der Leute in Erinnerung rufe.

Das Lachen, der jüdische Humor neben einer Sprache, die angesichts des Holocaust nur inadäquat sein kann, ihn zu beschreiben ... Raymond Federman sucht mit seinem Schreiben nicht einen Weg, das Unaussprechliche auszusprechen, sondern nichts von dem "epischen Ereignis des 20. Jahrhunderts" zu erzählen, es aber fühlbar werden zu lassen.

(M)ein Körper in neun Teilen

Nun hat sich Federman mit seinem zuletzt in deutscher Übersetzung erschienenen Buch "My Body in Nine Parts" ("Mein Körper in neun Teilen") wieder neu erfunden: als Performer, im Zusammenspiel mit den Musikern von Art|De Fakt und der Übersetzerstimme von Martin Engler, von Götz Naleppa mit großer Leichtigkeit inszeniert.

Der charismatische Übertreibungskünstler tritt unter anderem in ein Zwiegespräch mit seinen Körperteilen. Auf selbstironische und philosophische Weise hält er zum Beispiel Zwiesprache mit seinen Zehen bei der Nagelpflege, lässt seine Narben sprechen und sinniert über den Ausfall seiner Haare, verknüpft mit weltgeschichtlichen Ereignissen. Über Äußerlichkeiten führt er uns literarisch zu seinem Schicksal (oder der Geschichte, die seine eigene geworden ist) und kokettiert dabei mit dem Älterwerden. Seine Stimme kommt in der "Körperbiografie" an wichtigster Stelle:

Was aus der Kunst zu uns spricht, sei es aus Literatur, Musik oder Malerei, ist immer eine Stimme. Diese Stimme stemmt sich gegen das Nichts, aus dem wir kommen und in das wir wieder hineinfallen werden. In diesem Sinne ist meine Stimme mein menschliches Abenteuer. Zusammenfassend könnte man sagen: Ich rede, also bin ich. Ohne meine Stimme bin ich nichts. Ich hätte keine Geschichte.

Von der Musik kommentiert und weitergeführt, folgen wir Raymond Federman in ein großes Hör-Abenteuer.

Prix Italia 2009 für Hörspielbearbeitung

"My body in 9 parts" von Raymond Federman wurde vergangenen Samstag, den 26. September, in Turin als beste Hörspielbearbeitung mit dem renommierten Prix Italia ausgezeichnet. Der Prix Italia gilt als bedeutendste internationale Auszeichnung für Radio, Fernsehen und Internet und wurde in diesem Jahr zum 61. Mal vergeben.

Die Jury hob in ihrer Begründung neben der ironischen und literarischen Qualität des Textes vor allem die hochmusikalische Umsetzung durch den Regisseur Götz Naleppa hervor. Produziert wurde "My body in 9 parts" vom Deutschlandradio Kultur.

Raymond Federman ist am 6. Oktober 2009 im kalifornischen San Diego einem langen Krebsleiden erlegen.

Hör-Tipp
Hörspiel-Studio, Dienstag, 29. September 2009, 21:01 Uhr

Buch-Tipps
Raymond Federman, "Alles oder nichts", aus dem Amerikanischen von Peter Torberg, Greno Verlag 1986 (Andere Bibliothek Nr. 22)

Raymond Federman, "Mein Körper in neun Teilen", aus dem Amerikanischen von Peter Torberg, Matthes & Seitz 2008

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