Von Margit Mössmer

Gerda in Watzelsdorf

20.05 Uhr. Genau so hatte Gerda sich das vorgestellt. Sie würde der Einladung zum Kirtag in Watzelsdorf nachkommen, weil sie sie ihrem Freund, der im niederösterreichischen Weinviertel sesshaft geworden war, den sie noch aus ihrer Zeit in London gekannt und nun schon Jahre nicht mehr gesehen hatte, nicht ausschlagen konnte.

Sie würde sich schick machen, ihre blassgrüne Satinbluse anziehen, dazu ihre marineblaue Dreiviertelhose und die eleganten schwarzen Pumps.

Ihr Haar würde sie locker aufstecken und etwas Rouge tragen. Und so würde es, nachdem Sie eineinhalb Stunden mit dem Zug aufs Land gefahren war, auf der Heurigenbank zwischen Fremden sitzend zwei kleine Bier getrunken und einen Surbraten gegessen hatte, 20.05 Uhr werden, ohne dass sie wusste, was sie an diesem Ort zu suchen hatte.

Die zwei-Mann-Band spielte Schlager mit Synthesizer-Schlagwerk und Gitarre. Es hätte für Gerda, die stolz darauf war, ihre Wohnung als beschallungsfreie Zone bezeichnen zu können, nichts Unangebrachteres geben können. Gerda blickte von ihrem Tisch aus ins Festzelt, in dem nur ein paar Kinder Frucade-Glasflaschen, in denen dünne, bunte Strohhalme steckten, die durch die Kohlensäure aus dem Flaschenhals gedrückt wurden, wie einen Schatz horteten. Eine dicke Frau im Dirndl tanzte mit einem schnauzbärtigen Mann, der den Takt sehr gut halten konnte, auf dem eigens fürs Tanzen gebauten Bretterboden. Keine Spur von Wolfgang.

Gerda beschloss sich auf die Suche nach ihrem Freund zu machen und eine Runde in diesem recht heruntergekommenen Innenhof des Pfarrheimes zu drehen. Vielleicht hatte er sich im Laufe der Jahre verändert, so dass es ihr schwer fallen würde ihn zu erkennen. Sie wollte sich anstrengen. In die Gesichter der Leute blicken. Im Sitzen war ihr nicht aufgefallen, wie sehr sich der Hof mit Menschen gefüllt hatte. Sie streifte unentwegt Schultern, Busen und Bäuche, kam an Buden vorbei, an denen man Stoffrosen schießen und Zuckerketten kaufen konnte. An Ständen, in denen sich Grillhühner um ihre eigene Achse drehten, bis ihre Haut zu platzen begann. Am hinteren Ende des Hofes haben sich Menschen um einen großen Bottich versammelt. Eine alte, hagere Frau stand auf einer an das riesige Gefäß gelehnten Leiter und schöpfte immer wieder ein Getränk mit Früchten, das sie den anderen weiterreichte. Als Gerda näher kam, bemerkte sie, dass in dem Bottich ein wie zum Sprung ansetzender, toter Maulwurf in der Größe eines Kalbes schwamm. "Ein gelungenes Fest, nicht wahr?" sagte die alte Frau mit kräftiger Stimme zu Gerda. "Nehmen sie doch einen Schluck!" meinte sie und hielt Gerda auffordernd den Becher hinunter. Gerda stieg angeekelt bis zur zweiten Sprosse der Leiter um das Getränk entgegen nehmen zu können. "Ja, gelungen." Als sie die Leiter wieder hinunter stieg, rutschte sie mit einem Fuß vom Boden weg, jedoch nur so, dass sie sich wieder fangen konnte, ohne hinzufallen. Ihre Bluse aber hatte nun einen Fleck, weil sie im Taumel das Getränk verschüttet hatte. Auch die nächsten Schritte waren wie auf Glatteis und sie blickte nach unten. Der gesamte Boden war übersät mit schlitzigen Zwetschgenkernen, auf denen noch Fruchtfleisch hing. Erst jetzt erkannte sie, dass außer ihr jeder Mann, jede Frau, ob auf den Bänken sitzend oder in der Menge stehend, schleimige Kerne auf den Boden schlatzte. "Aber Sie, des is' doch ganz normal, was schauns' denn so verdutzt?" tupfte ihr ein junger Mann auf die Schulter. "Bei uns schütten sich das die Leut' um ihre Pools!". "Wie bitte?" - "Na, um die Indianer fern zum Halten!" sagte der Mann und die umstehenden Leute nickten. Gerda hatte keine Gelegenheit sich weiter darauf einzulassen, denn sie glaubte im Halbdunkel Wolfgang in einem Mann, der sich gerade von der Menge entfernt hatte, erkannt zu haben. Sie kämpfte sich durch den Frucht-Gatsch - ihre Pumps waren ruiniert - in Richtung Ausgang. "Wolfgang!" rief sie dem Mann im gestreiften Hemd hinterher, der sich mühelos und schnell fortbewegte. Die Zwetschgenmasse am Boden schien ihm beim Gehen keine Schwierigkeiten zu machen. Der Mann blieb stehen und drehte sich um. "Ja?" fragte er ins diffuse Licht der Lichterkette blinzelnd.

"Ich bin's, Gerda" sagte sie vorsichtig. "Ach ja, natürlich. Willst du eine Zigarette?" "Ich rauche nicht mehr." "Richtig" sagte er beinahe enttäuscht. Er steckte sich eine Zigarette an und hatte mit dem Aufleuchten des Feuerzeuges dunkelschwarze Knopfaugen. "Du siehst gut aus, Gerda" sagte er und hustete heftig, weil ihm Federn aus der Gurgel platzten. "So verändert" fügte er hinzu. "Du hast abgenommen?" federte er. Mit jedem Zug an der Zigarette und dem dezenten Licht, das die Glut auf sein Gesicht warf, bemerkte Gerda seine Veränderung zum Huhn. Seine Finger wurden zu Krallen, Nase und Mund zum Schnabel, seine Arme zu Flügeln. "Ich sehe, du hast dich nicht verändert" sagte Gerda zu ihrem Freund. "Bog, bogbog, boooooog" gackerte Wolfgang und flatterte davon.

20.25 Uhr. Genau so hatte Gerda sich das vorgestellt.