Von Margit Mössmer

Gerda in Bad Aussee

Die größten Ereignisse - das sind nicht unsre lautesten,
sondern unsre stillsten Stunden.

(Friedrich Nietzsche)

Jedes zweite Jahr im November fuhr Gerda nach Bad Aussee, um das Grab ihrer ehemaligen Schulfreundin Edith zu besuchen. Edith war vor 12 Jahren an einem Lebkuchenbrösel in der Altausseer Konditorei Zandler erstickt. Der Zandler war eigentlich für seine "Steirische Nusstorte mit Cremefüllung" berühmt, Edith aber hatte an jenem Tag im Frühling trockenen Lebkuchen bestellt. In ihrer Jugend hatte sie sich während eines Schulausfluges ins Salzkammergut in einen Altausseer Förster verliebt. Einen Mann mit Oberlippenbart und schmalem Gesicht, der stets in Tracht und mit Hut zu sehen war und der von gut 13 Jahren mehr Vergangenheit erzählen konnte, als Edith es im Stande war zu tun. Dafür war Fritz Rauhnagel kurz nach der Hochzeit mit Edith bei Waldarbeiten tödlich verunglückt. Ein starker Westwind hatte dazu geführt, dass sich eine am Berg wachsende Fichte entwurzelte und wuchtig in Richtung Tal donnerte. An der Stelle, an der der Baum zu liegen gekommen war, hatte sich ein Brocken vom Kalkfels gelöst, der nach seinem Weg, auf dem er immer wieder gewaltig an den Berg stieß, nur noch als Kieselstein an der Bergsohle angekommen war und dort Hubert Rauhnagel, Fritzens Bruder, so am Kopf getroffen hatte, dass der vor Schreck hastig um sich geschlagen und dabei vergessen hatte, dass er eine Hacke in der Hand hielt. Fritz war neben ihm gestanden. Vom "Brudermord auf der Seewiesen" war die Rede im Ort. Gerda liebte die Seewiese vom Altausseer See. Weil hier an diesem "geografischen Mittelpunkt Österreichs" alles aussah wie in Kanada. Und Gerda liebte Kanada. Für die Seeumrundung hatte sie sich neue Stiefel in einem kleinen Trachtengeschäft in Bad Aussee gekauft. Sie stellten sich schnell als schick und praktikabel heraus, ein Eindruck, den sie mit anderen zu teilen schien. Denn als sie gerade einmal eine halbe Stunde unterwegs war, erhob sich eine Frauengestalt im blassblauen Umhang aus dem Wasser, die von einem strahlenden Licht umgeben war und ihre Hände gütig gebend ausbreitete. "Gib mir deine Schuhe", sprach sie. Dabei rieselte Salz von ihren Lippen, klatschte laut ins sonst glatte Wasser. Die Salzkruste in ihrem Gesicht war so dick, dass man weder Augen noch Nase sehen konnte. "Deine Schuhe!", wiederholte die Erscheinung Salz bröckelnd.

Gerdas Weg führte sie schließlich vorbei am sparsam beleuchteten Seehotel, das Balkone aus der Fassade stöhnte, an verlassenen Fischerhütten, die einen frischen Anstrich hätten vertragen können, am Seerestaurant, das für diese Saison längst geschlossen hatte, über die "Laichschonstation" bis zur Jägerhütte auf der Seewiese, von wo aus sie den einmaligsten Blick über den See und auf den Loser (1838m) hatte. Gerda machte Rast auf der Veranda der Jägerhütte, auf der sich die wenigen Gäste um die aufgestellten Heizstrahler gruppierten. Die Worte der Wanderer waren wenige und in einem Dialekt gewechselt, den Gerda Mühe hatte zu verstehen. Von Blättern war die Rede, die durch den plötzlichen Wintereinbruch auf den Bäumen hängend erfroren sind, noch bevor sie gefärbt zu Boden fallen konnten. Was für ein Gleichnis, dachte Gerda. Zu sterben, ohne mit dem Leben fertig zu sein. Von Tieren sprach der Wirt, die etwas spüren würden. Vielleicht Schnee, oder etwas anderes. Jedenfalls würden sie mehr wissen als "wia aulle". Gerda konzentrierte sich auf jedes Geräusch: Die Worte des Wirtes, das Plätschern des schmelzenden Schnees, der noch am Dach liegen geblieben war, das Knacksen der Holzbank, Tassen, die im Innenraum der Hütte aneinander schlagen mussten. Kleine Geräusche wurden ganz groß. Wenn das jetzt ein Film wäre, dachte Gerda, würde in dieser Verdichtung bald etwas Großes passieren. Gerda stellte ihre Teetasse ab, nahm ihren Rucksack und mühte sich im Dickicht bei 12 Grad Celsius, den Rundgang ohne Schuhe zu beenden. Ein Förster hatte ihr auf halbem Weg angeboten, sie im Jeep mit in den Ort zu nehmen. Doch Gerda wusste bereits, dass Müßiggang aller Psychologie Anfang war und ging weiter.