Michel Houellebecqs neuer Roman

La carte et le territoire

Frankreichs Star- und Skandalautor Michel Houellebecq beherrscht zurzeit wieder einmal den französischen Literaturherbst. Sein neuester Roman, der erste seit fünf Jahren, trägt den Titel "La carte et le territoire" - was so viel heißt wie "Die Landkarte und der Landstrich".

Die Verkaufsstrategie des Verlags wollte, dass die Druckfahnen nur ganz wenigen, auserwählten Kritikern zur Verfügung gestellt wurden – und trotzdem zieht Houellebecq seit Mitte August fast die gesamte Aufmerksamkeit der französischen Literaturwelt auf sich und dies, obwohl in Frankreich in diesem Herbst rund 700 andere Romane erscheinen. Houellebecq selbst hat sich bislang jede Äußerung über sein neuestes Opus verkniffen.

Mittagsjournal, 06.09.2010

Alter ego Houellebecq

Die wenigen französischen Kritiker, die Houellebecqs fünften Roman bislang gelesen haben, sind sich einig: Er hat keinen Skandalgeruch, keine Spur von Gruppensex, nichts von heftigen Abrechnungen mit bestimmten Ideologien, keine Verunglimpfung des Islam und nichts von Frauenfeindlichkeit. Denn mit dem über 400 Seiten starken Werk und einer eher bescheidenen Startauflage von 120.000 Exemplaren soll heuer gelingen, was bereits zwei Mal schief gegangen ist: im Herbst den wichtigsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt zu holen. Und um jede Entgleisung des schwer berechenbaren Autors zu vermeiden, hat der Verlag Houellebecq im Vorfeld de facto ein Redeverbot auferlegt.

Sein Roman dreht sich um Jed Martin, einen 30-jährigen, relativ erfolgreichen zeitgenössischen Künstler, der unter anderem Michelin-Landkarten zu einem Kunstwerk verarbeitet - von daher der Titel des Romans - und für den Text eines Ausstellungskatalogs sich an "den berühmten, ja weltweit berühmten Schriftsteller Michel Houellebecq" wendet, "einer der nicht gut riecht, sich ständig kratzt und aussieht wie eine alte Schildkröte", so der Autor Houellebecq über die Romanfigur Houellebecq, deren Beerdigung im Jahr 2035, nach einer grausiger Ermordung, er am Ende des Romans in Szene setzt.

Begeisterte Kritiken

"La Carte et le territoire", schreibt eine Kritikerin, sei ein einziges, großes Selbstporträt Houellebecqs, dessen Züge sich aus den verschiedensten Figuren des Romans zusammensetzten, ja selbst der Hund Michou leiste seinen Beitrag.

Houellebecq, so ein anderer Kritiker, habe mit diesem Buch "seinen vollendetsten, mit Sicherheit seinen ironischsten und wahrscheinlich seinen tiefschürfendsten Roman überhaupt geschrieben. Einen Roman aus dem Jetzt, aus einer von Konsum und Markenartikeln beherrschten Welt, der von einer individualistischen, vom Geld beherrschten Gesellschaft erzählt, mit einem zynisch nihilistischen Grundton, voller Pessimismus und Melancholie".

"Ich hab das Buch wunderbar gefunden und sehr lustig", so die Kulturkritikerin Elisabeth Levy, "und ich meine, es schafft, was Balzac vom Roman verlangt hat, nämlich die menschliche Komödie offen zu legen. Er hält uns einen Spiegel vor und das Bild ist schrecklich, weil Houellebecq im Grunde der Ethnologe des Endes der Menschheit ist."

Ein "Meisterwerk" für Beigbeder

Den Vogel abgeschossen im Chor der Lobeshymnen hat einer, der für die Inzucht des französischen Literaturbetriebs steht, in einer Person ebenfalls Erfolgsautor, Herausgeber und Kolumnist der Literaturzeitschrift "Lire" ist und in Houellebecqs neuestem Buch auch noch als Romanfigur auftaucht: Frederic Beigbeder.

Er verstieg sich zu den Sätzen: "'La carte et le territoire' ist ein Meisterwerk, bei dem man lange damit beschäftigt sein wird, die verborgenen Winkel, die Mäander und die Komplexität des Spinnennetzes zu ergründen. Der Roman erinnert an Gemälde der Renaissance, die die Forscher noch Jahrhunderte lang mit Laserstrahlen durchleuchten werden, um vergeblich zu versuchen, hinter das Mysterium ihrer Schönheit zu kommen."

Schelte von Tahar Ben Jelloun

Immerhin: Ein Misston hat sich eingeschlichen in den Chor der Lobgesänge zur Lancierung eines Bestsellers. Ausgerechnet ein Jury Mitglied des Goncourt-Preises, der in Marokko geborene Schriftsteller und frühere Goncourt-Preisträger Tahar Ben Jelloun, hat - nicht in Frankreich, sondern in der italienischen "Republica" - Houellebecqs neuen Roman regelrecht vernichtet, dessen Selbstinszenierung als unerträglich und die ständige Vermischung von Realität und Fiktion im Buch als schlicht unverdaubar bezeichnet.

Service

Michel Houellebecq, "La carte et le territoire", Flammarion