Bilanz eines Selbstversuchs

Wie man (nicht) Isländer wird

Vielleicht ist es in keinem anderen Land so leicht, dazuzukommen. Und kaum wo so schwierig, wirklich dazuzugehören, wie auf dieser abgelegenen Insel im Nordatlantik, dachten wir auf der Rückreise. Aber vielleicht macht das ja auch nichts?

Eigentlich war das Dazugehören ja nicht Ziel und Zweck unseres sechsmonatigen Aufenthalts. Aber wenn man ein halbes Jahr an einem Ort lebt, überlegt man unwillkürlich, ob man denn da bleiben würde, wollte, könnte.

Was ist es, das Nicht-Isländer an Island finden? Nicht zuletzt von Einheimischen wurden wir das immer wieder gefragt. Was wir ein halbes Jahr lang hier täten - die Skepsis war zu hören, ob ihre Insel ausreichend schön, interessant und anheimelnd sei, um so lange einfach nur hier zu leben, das Land kennen zu lernen, vielleicht die Sprache.

Was finden wir also wirklich hier, wir Nicht-Isländer? Klar, sehr Verschiedenes. Was die einen befremdet, zieht andere an: Die Kargheit, die fehlenden Bäume. Die Weite. Der Wilde Norden, Island als eine "last frontier".

Andererseits, im Kontrast und Widerspruch dazu: urbane Dichte, ein kulturelles Leben von beeindruckendem Reichtum. Nicht nur in der Hauptstadtregion, auch in viel kleineren Orten: Akureyri, Ísafjördur, Selfoss. In Österreich wären das verschlafene Dörfer.

Man hat Platz in Island, räumlich und auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Man wird akzeptiert, wie man ist, in Ruhe gelassen, als Isländer wie als Fremder. Erst mit der Zeit fällt auf: Es fehlt jede Unfreundlichkeit, jede Ablehnung. Die in Europa so vertraute Fremdenfeindlichkeit ist schlicht und einfach kein Thema.

Das Fehlen von Reibung, das Fehlen von Enge kann auch schwer fallen. "Als Ausländer ist man zunächst interessant. Isländer wollen einen gern einmal kennen lernen", erzählen Freunde von uns: Sie Deutsche, er Amerikaner, getroffen haben sie einander in Island, inzwischen haben sie zwei Kinder und sind hier geblieben. "Aber wenn die Neugier gestillt ist, folgt kein zweites Treffen, keine zweite Einladung oder Gegeneinladung."

Denn Isländer sind vor allem Familienmenschen. Mit der erweiterten Familie wird oft ungleich mehr Zeit verbracht als mit Freunden. Und solche Familien können ziemlich groß werden in einem Land hoher Geburtenraten, wo auch Kinder mit verschiedenen Partnern traditionell häufig sind.

Taufen, Firmungen, Geburtstage - an den Wochenenden sprinten Isländer von einem Familienereignis zum nächsten, manchmal noch dazu in verschiedenen Landesteilen. Zum Kreis der familiären Bezugspersonen kommen oft nur wenige gute Freunde und Freundinnen dazu, schon in Schul- oder Studienzeiten kennen gelernt und ein Leben lang beibehalten.

"Im Prinzip sind wir alle eine große Familie", sagt unsere Nachbarin Holmfridur, eine Pianistin. Man muss sich meistens nicht lange unterhalten, um auf gemeinsame Verwandte zu stoßen. Ahnenforschung ist einer der beliebtesten Aktivitäten nicht nur älterer Isländer. Gerne erzählt man sich auch Anekdoten über Landsleute, die einander durch Zufälle im Ausland gefunden haben, gegen alle rechnerische Wahrscheinlichkeit. Eine Nation als Verwandtschaftsverband.

Die engen Verflechtungen, Verschwägerungen und Verpflichtungen werden von vielen Isländern auch als Grund dafür genannt, warum die vor zwei Jahren aufgeflogene Korruption in Politik und Wirtschaft seit Jahrzehnten Teil des Systems war, wirksame Kontrolle ausgeblieben ist.

Auch für Zugewanderte ist die isländische Gesellschaft bemerkenswert barrierefrei. Sicher, es gibt praktische Hürden: Ohne "Kennitala" (persönliche Kennzahl) kann man kein Konto eröffnen und keinen günstigeren Tarif fürs Handy erlangen. Solch eine Kennzahl erhält man nur mit geregeltem Arbeitsverhältnis, Studium oder sonstigem begründeten Aufenthalt - wie zum Beispiel Verwandtschaftsverhältnis zu einem oder einer Isländerin ... Andererseits sind Isländer keine Formalisten. Wo ein Wille, tun sich auch Wege auf.

Letztlich stellen sich Zugereisten, die bleiben wollen, wohl nur drei bedeutende Hindernisse: Die lange Dunkelheit im Winter (die Kälte ist dank Golfstrom weniger ausgeprägt als am Kontinent), die isländische Sprache - und eben die Nichtverwandtheit.

An die Dunkelheit gewöhnt man sich oder nicht, auch geborene Nordländer leiden unter ihr. Die Sprache, mit einer der komplexesten Grammatiken der indoeuropäischen Gruppe gesegnet, lässt sich mit viel Zeit und Geduld erwerben. Die Verwandtschaft jedoch nicht - allenfalls durch Heirat (und gemeinsame Kinder).

Allen anderen Island-Freunden bleibt immer noch eines: Isländer des Geistes zu werden, bei freiwilliger Annahme all dessen, was diese Insel und ihre Bewohner auszeichnet. So wie wir sie ein halben Jahr lang kennen gelernt haben.