Reformen notwendig, aber auch möglich?

Der Untergang der islamischen Welt

Hamed Abdel-Samad diagnostiziert nicht nur eine gestörte Kommunikation zwischen islamischen und den westlichen Ländern. Er schreckt nicht zurück vor fundamentaler Islamkritik - und fordert eine neue Streitkultur, eine differenzierte Debatte über Muslime und Migration.

Neben der herrschenden Terrorgefahr führen die sich im Westen seit Jahren ausbreitende Gleichgültigkeit und das chronische Beleidigtsein der Muslime zu einem Klima des Misstrauens und der Angst auf beiden Seiten. (...) Aber wer hat Schuld daran, dass dieses Klima entstanden ist? Sind es wirklich nur die westlichen Medien und Populisten wie Thilo Sarrazin, die angeblich antimuslimische Ressentiments schüren, oder tragen die muslimischen Fanatiker (...) nicht ebenfalls Schuld daran? (...) Es fehlt eine Atmosphäre, in der ehrliche Kritik zulässig ist und die frei ist von Stimmungsmache, Apologetik und Überempfindlichkeit.

Debatte um Sarrrazin

"Ich glaube nicht, dass das Buch von Thilo Sarrazin erfolgreich war wegen den Ängsten, sondern weil er Probleme angesprochen hat, die totgeschwiegen waren", meint der aus der islamischen Welt stammender, seit Jahren im Westen lebender Politikwissenschaftler und Publizist Abdel-Samad. "Sarrazin war nicht der erste, der über solche Sachen gesprochen hat, aber er war der erste, der in dieser Intensität all diese Probleme in einem Bündel behandelt hat, und deshalb hat er einen Nerv getroffen."

Er sei sehr sehr enttäuscht über die Art und Weise, wie die Debatte danach verlaufen ist, sagt Abdel-Samad. "Sarrazin hat nur ein Buch geschrieben, er ist kein Verbrecher, er ist kein Rassist. Man hätte mit ihm unverkrampfter diskutieren können."

Deutschland schaffe sich nicht ab, Deutschland verändere sich, und das sei gut so, sagt Hamed Abdel-Samad in Bezug auf Schwarzseher Sarrazin, den er für viel harmloser hält, als er in der hysterischen Debatte erscheint.

Machtloser, rückständiger Islam?

"Was den Islam betrifft", so der deutsch-ägyptische Wissenschaftler, "mag er in seinem jetzigen Zustand alles Mögliche sein, nur eines ist er meines Erachtens gewiss nicht: Er ist nicht mächtig. Er ist im Gegenteil schwer erkrankt und befindet sich kulturell als auch gesellschaftlich auf dem Rückzug. Die religiös motivierte Gewalt, die zunehmende Islamisierung des öffentlichen Raums und das krampfhafte Beharren auf der Sichtbarkeit der islamischen Symbole sind nervöse Reaktionen dieses Rückzugs."

"Ich bin kein Empiriker, auch kein Statistiker, ich arbeite mit meinen Augen und meinen Ohren", erklärt Abdel-Samad. "Ich beobachte, was in der islamischen Welt seit Generationen passiert und stelle fest: Die islamische Welt ist Schlusslicht, was Bildung und Wissenschaft angeht in dieser Welt, was die Einhaltung von Menschenrechten betrifft, vor allem von Frauenrechten. Keine Kultur kann im Zeitalter der Globalisierung sich so etwas leisten. Deshalb prophezeie ich auch den Untergang der islamischen Welt."

"Der Untergang der islamischen Welt. Eine Prognose": So heißt denn auch Hamed Abdel-Samads neues Buch - eine höchst streitbare Schrift, persönlich, provokant und nie um Deutlichkeit verlegen. In fünfzehn Kapiteln sammelt der Autor Belege für die Misere des Islam, seine Rückständigkeit, seine Orientierungslosigkeit und Innovationsfeindlichkeit.

"Es kann sein, dass der Westen die islamische Welt lange kolonialisiert hat und heruntergewirtschaftet hat. Das hat das Osmanische Reich auch in Bezug auf Europa", sagt Abdel-Samad."Die Muslime haben auch Europa kolonialisiert. Das heißt, wer die Macht hat, diktiert. Und keiner hat die Macht, das Schicksal der Völker für ewig zu bestimmen. Irgendwann müssen sie das Heft in die Hand nehmen, Selbstkritik üben und sich selbst fragen, was können wir selbst tun. Und nicht, was haben die anderen immer falsch gemacht."

Umkehr der Moderne

Hamed Abdel-Samad schreibt über Kränkungen, Ressentiments und falsche Feindbilder, über Herrschaftstreue, verlogene Sexualmoral und verankertes Stammesbewusstsein, über eine archaische Kultur der Ehre und des Widerstands, die die islamischen Gesellschaften präge.

Er schreibt über Muhammad Ali Paschas Modernisierungsversuche im frühen 19. Jahrhundert - und die Rückkehr zur Orthodoxie, über Geschichtsklitterung und Manipulation in arabischen Schulbüchern und die paradoxen Auswüchse einer - wie er es nennt - "Wut-Industrie". Da fühlen sich Muslime schon mal von ihrer eigenen Literatur beleidigt, von den "Geschichten aus 1001 Nacht" zum Beispiel, die in Saudi-Arabien auf dem Index stehen - wegen angeblicher unmoralischer und erotischer Passagen.

Der Publizist stellt fest, dass jemand, der vor vierzig Jahren durch Kairo, Teheran oder Kabul ging, die Städte heute kaum mehr wiedererkennen würde: Die Prozesse der Modernisierung - längst sind sie wieder zurückgenommen. Abdel-Samads Tante lief früher im Minirock herum, heute ist ihre Tochter voll verschleiert. Er zitiert einen Bericht des World Economic Forum, dem zufolge eine halbe Milliarde muslimischer Frauen Opfer von Diskriminierung, Unterdrückung und Gewalt seien, und schildert das Schicksal seiner Nichte Waafa, die mit zehn Jahren beschnitten, mit vierzehn verheiratet und Mutter wurde, von ihrem Ehemann misshandelt und vergewaltigt.

Abdel-Samad rekapituliert ein Gespräch über Meinungsfreiheit, religiösen Respekt und Massenhysterie, das er mit dem Kulturredakteur jener dänischen Zeitung führte, die die umstrittenen Mohammed-Karikaturen veröffentlichte, und erlebt in der Freistadt Christiana in Kopenhagen die frappierende Parallele zu einem islamischen Land: Die vermeintliche Oase für linke Aussteiger als geschlossene Enklave, gewalttätig, intolerant und starr.

Menschen statt Texte

"Der Islam ist nicht reformierbar, weil er mit Konstruktionsfehlern, mit Geburtsfehlern ausgestattet wurde. Es ist sehr schwierig Islam - Religion und Staat - zu trennen", erklärt Abdel-Samad. "Ich setze auf Menschen, nicht auf Texte. Die Texte kann man nicht reformieren. Aber die Geisteshaltung der Menschen gegenüber diesen Texten kann man reformieren. Wenn wir uns einig sind, dass der Koran nicht das Wort Gottes ist, das für unser Leben Anweisung gibt und auch für die Gesetzgebung, sondern ein menschliches Konstrukt ist, das für die Bedürfnisse einer vormodernen Gemeinde im 7. Jahrhundert entstanden ist - wenn die Muslime diese Tatsache akzeptieren können, dann beginnt die Reform."

Hamed Abdel-Samad bezeichnet sich als Häretiker, als Ketzer, der nicht mehr an die Reformierbarkeit der islamischen Welt glaubt, jedenfalls nicht, solange diese strikt am Koran als sakrosankter Grundlage festhält. Deshalb fordert der Autor einen postkoranischen Diskurs:

Was von der islamischen Geschichte des Denkens übrig geblieben ist, ist meines Erachtens der intellektuelle Schaum einer unversöhnlichen Orthodoxie, und der kann nicht länger in der modernen Welt bestehen.

Konkurs oder Neubeginn?

Am Ende eines 230seitigen, pointiert vorgetragenen Schwanengesangs weiß der Leser nicht so recht, ob er sich Hamed Abdel-Samads düsterer Prognose nun anschließen soll oder nicht. Ist der Islam tatsächlich unreformierbar? Kann ein neues, modernes "Unternehmen Islam" nur entstehen, wenn das alte Insolvenz angemeldet hat? Ist die konstatierte Konsummentalität der islamischen Länder wirklich ein Symptom für ihren Untergang - und warum diese dann anprangern, wenn sie nur beschleunigt, was eh nicht aufzuhalten ist: Den Konkurs der islamischen Kultur? Ist es überhaupt legitim, von dem Islam im Singular zu sprechen?

Hamed Abdel-Samad träumt von einem aufgeklärten Islam, ohne Scharia und Dschihad, ohne Frauen-Diskriminierung, Autoritätshörigkeit und Missionierungseifer. Er fordert deshalb "die Trennung von Religion, Stammesbewusstsein und politischer Macht" und die Verabschiedung alter Feind-, Welt- und Gottesbilder. Er weiß, Appelle und Thesen wie seine erreichen in der Regel nicht die, für die sie gedacht sind - die Muslime in den islamischen Staaten -, und hofft doch auf das Gegenteil. In diesen Tagen erscheint sein Buch in seinem Herkunftsland Ägypten. Man darf gespannt sein.

Service

Hamed Abdel-Samad, "Der Untergang der islamischen Welt. Eine Prognose", Droemer Verlag

Droemer Knaur - "Der Untergang der islamischen Welt"

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